60 Hektar Deutschland

 ■ S T A N D B I L D

(Der Schönste, 14. November, 22.40 Uhr, ZDF) Das Bahnhofsviertel ist kein Mythos. Auf der Kaiserstraße nachts um halb drei singt kein Mensch. Hier ist nicht St. Pauli. Uneuropäisch stapeln sich Prostitution und Koranschule, Gebäudespekulation und Obdachlosenrevier. Die 'FAZ‘ zählt akribisch Drogentote, und die Ausbeuter drücken sich die Klinke, um die „illegal“ Immigrierten zu schlagen - und nicht in die Flucht. Es ist eng auf 60 Hektar Asphalt.

Hier blüht Voyeurismus, hier brachten die Grünen bereits verbal ihre Pflanzaktion ein. Bäume statt Bordelle. Promenade statt Fixerallee. Als ob auch das Bürgerliche hier noch einen Platz fände.

Burghard Schlichts Film Der Schönste ist kein Porträt dieser Gegend, sondern besser als ein Porträt. Schlicht sagt allenthalben die Wahrheit. Er zeigt keine Asylbewerberheime und Drogentote. Er zeigt den Typus, der im Bahnhofsviertel strandet, und das sind Hunderte, das sind Optimisten der schrecklichen Sorte. Zwangsaufschneider. Sein Exemplar heißt mit Rufnamen Der Schönste. Seine Figur hat nicht unser Mitleid, sie hat unser besseres Verständnis. Mit ausgezeichneter Intelligenz stellt Schlicht die Verhältnisse auf die Füße. Er schaut nicht über den Tellerrand. Nach dem Abriß einer Bleibe spricht er nicht über Gebäudespekulation, sondern zweideutig über Gebäudereinigung. „Jeder gottverdammte Winkel muß sauber sein. Die wollen das so haben.“ Der Optimist macht sich ans pragmatische Werk, will sich folglich als Putzkolonnenführer in eine Großbank einkaufen. Über das Mißlingen fällt kein Wort. Sein Lieblingswort ist „ganz normal“. Der Mann hat Hunger. Ihn zu stillen ist ganz normal unmöglich. Er verliebt sich in eine Thai, die heimlich nach Frankfurt zurückkehrte, um gleich wieder abgeschoben zu werden. Darüber spricht man nicht. Sie wird „abreisen“. Sie fühlt sich wie er als Episode und streichelt ihn, kurz und gerne. Schlicht - seinem Namen alle Ehre - zeigt Leben nicht am Abgrund, sondern wach und müde.

Eine winzige Handlung flicht er ein. Ein Mord auf offener Straße, die den Schönsten, halb im Verfolgungswahn, halb berechtigt, zum Untertauchen im Viertel zwingt. Er kennt die Mörder. Das genügt, die Welt ist klein genug, die Enge läßt ihn leicht aufstöbern. Aber es geschieht ihm nichts. Er ist Optimist, ist schlau wie eine Ratte im Kanalloch. Wo keine Luft ist, muß man untertauchen, von Luftloch zu Luftloch. Aus dieser Perspektive ist das Bahnhofsviertel nicht zum Heldenplatz der nachfolgenden Kulissenfilmer geworden. Ganz im Gegenteil. Hier hat sich einer mit den Verhältnissen derart vertraut gemacht, daß er über sie schweigen kann, ohne nur einen Winkel dieser elenden Situation ausgelassen zu haben.

Arnd Wesemann