„Das Dioxin ist wie ein Gespenst“

Die Situation im dioxinverseuchten Maulach wird immer unerträglicher / Asylbewerber auf dem verseuchten Boden fürchten um ihre Gesundheit, aber auch, daß sie in ein Lager abgeschoben werden / Das Dioxin-Nest soll saniert werden  ■  Aus Crailsheim Erwin Single

Afghanische Flüchtlinge klagen über Kopfweh, Hustenreiz und Gliederschmerzen. Einer von ihnen soll sogar unter Haarausfall leiden. Bei zwei Kindern werden nach Verdacht auf Chlorakne Blutuntersuchungen veranlaßt. Frauen wird geraten, ihre Kinder kürzer oder gar nicht mehr zu stillen. Während die behandelnden Ärzte noch rätseln, woher die verdächtigen Krankheitssymptome kommen, legen sich die Betroffenen fest: Sie vermuten, daß die Beschwerden mit ihrer durch Dioxin hochvergifteten Umgebung zusammenhängen. Beweisen können sie es allerdings nicht.

Seit bekannt wurde, daß der Boden um die seit 1985 stillgelegte Kabelverschwelanlage Hölzl verseucht ist, ist es in der kleinen Gemeinde Maulach im Hohenloischen unruhig geworden. Die Nachricht hat bei den 150 Einwohnern des bei Crailsheim gelegenen Dorfes im Frühjahr „wie eine Bombe eingeschlagen“, sagt der Landwirt Karl Rehberger. Wie ein „Gespenst“, das ständig da ist, obwohl „man nichts davon merkt, weil es nicht zu hören, zu sehen oder zu spüren ist“, setzt sich die Dioxinbelastung bei den Menschen in Maulach fest.

Vor Monaten schon wurden bei Messungen auf dem Firmengelände und den angrenzenden Wiesen Spitzenwerte von über 30.000 Nanogramm pro Kilo Boden registriert - bis dahin die höchsten Dioxinwerte in der BRD. Die Teilnehmer einer daraufhin im Februar beim baden-württembergischen Umweltminister einberufenen Krisensitzung beschlossen zwar, die Betroffenen zu informieren und Anbauempfehlungen zu erlassen, sahen aber vorerst keinen weiteren Handlungsbedarf. Und das, obwohl die Situation schon damals als durchaus „brisant“ eingeschätzt wurde.

Erst Presseberichte über Erkrankungen von fünf Asylbewerbern, die in den zwei Wohngebäuden untergebracht waren, die direkt an das Betriebsgelände angrenzen, lösten bei den verantwortlichen Behörden zum Teil hektische Aktivitäten aus. Ein makabres Hin und Her um die etwa 40 noch in den Häusern einquartierten Asybewerber aus Afghanistan, Polen und der Tschechoslowakei setzte daraufhin ein.

Das Regierungspräsidium in Stuttgart ließ vor 14 Tagen zunächst verlautbaren, daß es keine „hinreichenden Anhaltspunkte“ für einen Zusammenhang zwischen den Krankheitssymptomen und der Dioxinbelastung gäbe. Den Betroffenen wurde dennoch vorsorglich eine Verlegung in die Ausländerwohnheime Neckarsulm und Schorndorf angeboten. Die meisten lehnten jedoch dieses Angebot ab. Begründung: Sie wollten nicht in ein Lager zurück.

Ihr Drängen gegenüber der Stadtverwaltung, ihnen eine andere Unterkunft in Crailsheim zu besorgen, blieb bisher erfolglos. Es gäbe derzeit keine Ausweichmöglichkeit, hatte Bürgermeister Helmut Maaß noch vor einigen Tagen erklärt. Nun hat ihm aber das Regierungspräsidium ein Ultimatum gesetzt: Bis gestern sollten für die restlichen Bewohner andere Quartiere gefunden werden. Inzwischen scheint auch die Stuttgarter Behörde umgeschwenkt zu sein. „Die Häuser sind nicht mehr bewohnbar“, erklärte kürzlich Regierungspräsident Manfred Bulling. Die Asylbewerber aber bleiben skeptisch. „Solange nicht klar ist, wo wir hingebracht werden, gehen wir nicht von hier weg“, sagt Akbar Mohamadi. Seit sechs Monaten ist er in der Bundesrepublik.

Letzten Donnerstag wurde allen Bewohnern von Sozialamtsleiter Hetzel persönlich mitgeteilt, daß sie umquartiert werden. Notfalls sogar mit Polizeieinsatz. Nur wohin, hat er ihnen verschwiegen. Seither haben sie Angst. „Vielleicht bringen sie uns in ein Lager“, sagt Akbar. Akbars Frau ist schwanger; er befürchtet, daß das Kind mißgebildet zur Welt kommen könnte. Die Situation ist für ihn wie für alle anderen unerträglich. Auch Blanka Kollarova klagt über Nervosität und Schlafstörungen. „Als wir vor zwei Monaten hierher gebracht wurden, wußten wir nicht, daß das Gelände mit Dioxin verseucht ist“, sagt sie.

Auch viele Maulacher BürgerInnen hadern mit dem harten Schicksal. „Jahrzehnte haben wir im Rauch und Dreck der Fabrik gelebt“, sagt Karl Rehberger. Und niemand weiß, welche Folgen die Dioxinbelastung für ihre Gesundheit und ihr Leben im Dorf haben wird. Viele von ihnen haben jahrelang bei Hölzl gearbeitet. Andere, wie Karl Rehberger, leben von der Landwirtschaft. Sie fürchten um ihre Existenz.

Das Dorf scheint sich in zwei Lager zu spalten: die einen, die die Lage sehr ernst nehmen und Forderungen stellen; die anderen, die am liebsten nicht mehr darüber sprechen möchten. Karl Rehberger zählt sich zu den ersteren. Sein Vertrauen in die staatlichen Institutionen hat stark gelitten. „Die Verantwortlichen erzählen nur, was vor einer Woche schon in der Zeitung stand“, sagt er. Und Ortsvorsteher Horst Müller stimmt dem zu: Es habe viele Verlautbarungen gegeben, aber eigentlich sei bis jetzt fast nichts geschehen. Am meisten gewurmt hat ihn das „Schaulaufen“ der Landespolitiker in Sachen Dioxinskandal. „Für die Maulacher gibt es keine andere Alternative, als zunächst das belastete Gelände zu sanieren, um eine akute Gefährdung weiter auszuschließen“, meint er. Erst dann könnte man damit rechnen, daß wieder Ruhe einkehrt.

Die ersten „Sanierungsmaßnahmen“ sind bereits angelaufen. In 23 Gärten wurde der belastete Boden teils ausgehoben, teils mit neuer Erde überdeckt. Für das Betriebsgelände und die benachbarten Wiesen hat das Regierungspräsidium einen Bodenaustausch angeordnet. Rund 5.000 Kubikmeter Erde sollen abgetragen und auf die Hausmülldeponie nach Schwäbisch Hall verfrachtet werden.

Doch damit kündigt sich schon neuer Ärger an: Der Haller Kreistag hat gegen die Lagerung der dioxinverseuchten Erde Bedenken erhoben. Das Regierungspräsidium und die Landesanstalt für Umweltschutz dagegen sehen in dem verseuchten Boden lediglich etwas mit Dioxin vermischten Dreck, aber keinen Sondermüll. Und der kann problemlos in die Deponie „eingebaut“ werden. Notfalls auch gegen den Widerstand des Landkreises.