Der Dritte Weg und einige Fragen

Der junge DDR-Lyriker Uwe Kolbe schrieb aus den USA einen offenen Brief an Bärbel Bohley  ■ D O K U M E N T A T I O N E N

Austin, Texas, den 8.11.8

Liebe Bärbel,

soweit ich informiert bin, reduzieren sich die Forderungen des Neuen Forums, dessen Mitbegründerin Du bist, derzeit vor allem noch auf Allgemeines bzw. darauf, was die rasante Veränderung der Realität im Alltag aufzwingt (Demonstrationsrecht und Gewaltfreiheit etwa).

Konkretester und zugleich wichtigster Punkt Eurer Agenda sind jedoch freie Wahlen, wie sie auf dem heutigen DDR -Territorium immerhin seit 1933 nicht mehr stattgefunden haben.

Es sei dahingestellt, welche neuen Gruppen und Parteien in der Lage sind, sich bis zu jenem Zeitpunkt - der so nah wie möglich sei - derart zu konstituieren, daß sie mit Programmen Wähler interessieren können. Auch an potentiellen, anderen Politikern für ein demokratisch gewähltes Parlament und eine entsprechende Regierung mangelt es noch. Es geht schließlich darum, eine Auffassung vom Staat insgesamt zu verwerfen, darum, etwas völlig Neues zu versuchen. Hier stocke ich, weil ich ahne, daß wir sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben. Gerade deshalb aber schreibe ich Dir.

Was ich dem 'Neuen Deutschland‘ und der 'New York Times‘ entnehme, was ich mir am Telefon berichten lasse - hier, so irrsinnig weit weg, als Gastdozent an der Universität von Texas in Austin, wo ich mit Studenten die gegenwärtige Situation am Beispiel des Verhältnisses von Literatur und Zensur in vierzig Jahren DDR abzuleiten versuche -, es sagt mir vor allem eines: Die Kluft zwischen jenen, die noch Macht innehaben, sowie jenen, die eine andere Art Macht begehren, einerseits und dem Gros der Leute, die jetzt in einem Akt des Mündigwerdens auf die Straße strömen, andererseits, die Kluft zwischen Intellektuellen und Masse also - sie ist so groß wie eh und je, sie scheint sogar zu wachsen. Auch jede neue Rekordziffer, die die Zahl der Ausreisenden erfaßt, spricht davon.

Liebe Bärbel, ich bitte Dich und Euch, das Neue Forum wie all die anderen Kräfte und Personen, deren Verantwortung jetzt eine andere Qualität erlangt, folgendes zu bedenken. Ich bitte es auch zu bedenken, wenn der Alltag und der erforderliche Pragmatismus derzeit womöglich eine andere Taktik von Euch verlangen. - Es geht jetzt nicht mehr um Taktik, oder?

Der erste Schritt, mit Demokratie ernst zu machen, er wird nach 40 Jahren Entmündigung der überwiegenden Mehrheit des Volkes, nach 40 Jahren radikaler „Klassenmacht der Intelligenz“ (nach György Konrad) ein deutlicher und grundsätzlicher sein müssen. Freie Wahlen sind der zweite Schritt.

Der erste Schritt muß eine andere Dimension haben. Zehntausende, Hunderttausende, die so mit den Füßen abstimmen, sind mündig. Man kann sich nicht wie enttäuschte Eltern vor sie hinstellen und meinen, nun bekämen sie doch, was sie wollten, und nun würde bald alles gut, sie sollten nur vernünftig sein („Nicht wie müde Cäsaren: Morgen kommt Mehl“, Brecht). Natürlich spielt die Zeit eine Rolle, aber in erster Linie muß auch dieses Verhalten als mündiger Ausdruck akzeptiert werden. Wenn unabhängige Intellektuelle, Initiativen, Gruppen plötzlich Unbehagen äußern in einer Reihe mit den Machthabern, sehe ich darin meinerseits ein unbehagliches Zeichen. Es bahnt sich unter dem Banner von Toleranz, von wiederbelebter Politik der Volksfront etwas an, was ich für Borniertheit einer Schicht, ja der zur Klasse gewordenen Intelligenz halte.

Da ich selbst nach jenem primitiven Schema von Basis und Überbau als Schriftsteller dieser Klasse angehöre, laß es mich so formulieren: Wir haben nicht das Recht, die Minderheitsherrschaft zu erhalten, indem wir sie reformieren, sie lediglich um unsere eigene Teilnahme vermehren und also weiterführen. Sozialismus ist in seiner bisherigen Geschichte die Geschichte einer Heilslehre, die zur Anmaßung wurde. Im Namen unumstößlicher Gewißheiten, materialistisch herbeifilosofiert und ununterbrochen polemisch bestätigt, wurde aus Idealismus Machiavellismus. Oh ja, die marxistische Dialektik und Geschichtsbetrachtung, wo sie mehr als hegelianisch ist, die Moral und die Träume vom Himmelreich, wo sie nicht in der Bergpredigt besser formuliert sind - warum soll nicht bei der bewußten Gestaltung einer Gesellschaft auch diese Lehre eine Rolle spielen?

Die potentielle Opposition der DDR tritt nicht klarer hervor, weil sie an Sprachregelungen gebunden ist, die unmittelbar aus dem Vorhandensein zweier deutscher Staaten resultieren. Sie sucht verzweifelt nach einem dritten Weg, um die Abgrenzung vom anderen Deutschland nicht aufgeben zu müssen. Demokratie westlicher Prägung, bürgerliche Demokratie im Sinne der großen Menschenrechtserklärungen, sie wird im Grunde verlangt, aber es verbietet sich, dies so direkt zu formulieren. Die Teilung Deutschlands soll als Ergebnis der zwei von Deutschland ausgelösten Kriege hingenommen, ja gefestigt werden. In dem gedachten Haus Europa wäre sie ohnehin irrelevant (ja, sie wäre nämlich beendigt). Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge.

Die größte Angst allemal scheint mir vor offenem Streit zu bestehen. Unsinn, höre ich den Zwischenruf. Überall wird gestritten, im Fernsehen, in den Zeitungen, zwischen zwanzigtausend Demonstranten und den Oberen einer Stadt. Endlich, hör‘ ich mich antworten, endlich das bißchen. Wie viele Jahre liegt es zurück, daß die antagonistischen Widersprüche wieder eingebürgert wurden in der DDR? Nicht allzu viele. Aber ist der Antagonismus der Anschauungen schon zugestanden? Gäbe es jemanden, der nein zum ganzen Sozialismus sagte, könnte er sich Gehör verschaffen? Überwiegt nicht noch immer das alte Harmoniebedürfnis? Gibt es bereits Gegner, die einander öffentlich herausfordern und sich damit dem Urteil der Menge überantworten?

Gefordert ist ein Staat, der den Dissens aushalten kann. Nähren soll er sich von dem Aufeinanderprall der Meinungen, Filosofien, Anschauungen, die ihm zufließen, wenn er sie nicht mehr unterdrückt. Rumoren soll es davon in ihm, rumoren wie in jedem lebendigen Organismus, der Normalität in sich aushalten kann.

Wie aber sieht der erste Schritt zur Normalität aus, den ich vorschlagen möchte? Abnorm sieht er aus, ungewöhnlich wie die Lage in einem land, das sich Jahrzehnte selbst nicht kennen durfte.

Ich rede von einem Referendum. Ich meine, das Volk selbst soll sprechen, in seiner Gesamtheit. Es soll nicht wählen müssen zunächst zwischen verschiedenen Programmen wie zwischen Angeboten im Kaufhaus, sondern sich grundsätzlich artikulieren. Eine neue Verfassung wird nicht schnell genug auszuarbeiten sein. Darum schlage ich vor, folgende Fragen oder einen Teil von ihnen so schnell wie möglich zu stellen (sie erscheinen hier ohne Rangordnung):

1. Soll die vollständige und bedingungslose Freizügigkeit der Person eingeführt werden?

2. Soll eine Föderation mit der Bundesrepublik angestrebt werden?

3. Könnte Berlin Sitz einer Föderationsregierung werden?

4. Sollen beide deutsche Staaten neutral werden? (Voraussetzung für diese beiden Fragen sind selbstverständlich Verhandlungen der Alliierten über den Abzug ihrer Truppen, ist die endliche Aufhebung des Status quo, die Festschreibung der europäischen Nachkriegsordnung in den bestehenden Grenzen usf.)

5. Soll die Währung der DDR konvertierbar werden?

6. Sollen die Großbetriebe in Arbeiterselbstverwaltung übernommen werden?

7. Soll die freie Marktwirtschaft eingeführt werden?

8. Soll es Beschränkungen für Privatunternehmer weiterhin geben?

9. Soll es freie Wahlen geben?

10. Soll es einen freien Wechsel der Mehrheiten wie in westlichen Demokratien geben oder die festgeschriebene Vorherrschaft einer Partei?

11. Sollen Konsumbeschränkungen zugunsten der Ökologie eingeführt werden?

12. Sollen die Einkommen und Privilegien von Berufsfunktionären oberer Ebenen offengelegt werden?

13. Soll das Ministerium für Staatssicherheit öffentlich Rechenschaft über seine innenpolitischen Aktivitäten seit seinem Bestehen ablegen?

Der erste Schritt auf dem künftigen Weg könnte auf solche oder ähnliche Weise eine Initiation zur demokratischen Mehrheitsherrschaft sein. Wer von Basisdemokratie in Gruppen, Parteien, in Betrieben spricht, wer Graswurzelbewegungen unterstützt bzw. sein eigenes Tun in diesem Sinne auffaßt, der kann nicht von oben herab belehren. Haben wir selbst denn nicht vor allem Fragen?

Diesen Brief gebe ich Dir, Bärbel, in die Hand, und ich bitte Dich, ihn so öffentlich wie möglich zu machen in der DDR. Ich selbst versuche, ihn in einer bundesdeutschen Zeitung erscheinen zu lassen, und ich gebe ihn als Anthologiebeitrag dem Rowohlt Verlag.

Aktuelle Forderungen, wie sie hoffentlich „in den nächsten Tagen“ eingelöst werden, habe ich außer acht gelassen. Dazu gehört natürlich freier Zugang zu den Medien, d.h. endlich unabhängiger Journalismus. Damit meine ich auch den freien Verkauf westlicher Zeitungen, die Aufhebung der Zollbeschränkungen für Druckerzeugnisse (mit der berühmten Brechtschen Ausnahme natürlich) usw. Sehen wir einander in der zweiten Dezemberhälfte?

Herzliche Grüße, Dein

Uwe Kolbe