Linienstreit um Zweistaatlichkeit

Kontroverse der Grünen in der Deutschlandpolitik: Wiedervereinigung, Zweistaatlichkeit oder alles offen halten - alles ist vertreten / Bundesvorstand für sofortige Anerkennung / Fraktion dagegen  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Alfred Mechtersheimer, hat die deutschlandpolitischen Positionen der Partei als „inhuman, undemokratisch und unhistorisch“ bezeichnet und ist nachdrücklich für die Wiedervereinigung eingetreten. Damit eskaliert zwei Tage vor Beginn des Perspektivenkongresses, der nach einer Programmänderung die Umwälzungen in der DDR in den Mittelpunkt stellt, in der Partei die Kontroverse, wie das Selbstbestimmungsrecht ausgelegt werden müsse.

Die Grünen hätten den DDR-Übersiedlern „ihre Doktrin von der Zweistaatlichkeit ins Gesicht geschlagen“, schreibt Mechtersheimer in einem Brief an die Fraktionssprecherin Antje Vollmer. Den Übersiedlern werde „die Solidarität verweigert, weil sie sich der deutschen Nation zugehörig fühlen“. Die Zweistaatlichkeit sei bei den Grünen „ein höherer politischer Wert, als die ergebnisoffene Verwirklichung des demokratischen Selbstbestimmungsrechts“. „Es gibt eine grüne animalische Angst vor der deutschen Einheit“, stellt Mechtersheimer fest und verweist darauf, daß Teile der Partei in der Angst vor der Wiedervereinigung gar die früher bekämpfte Blockordnung bejahten. Mechtersheimer begreift die Vorgänge in der DDR als „Stufen zur staatlichen Einheit und keine Reformen gegen die Wiedervereinigung“. Sie schüfen die „Voraussetzungen für einen organischen Prozeß der Vereinigung“, sagt der Friedensforscher und wirft den Grünen vor: „Wer die Wiedervereinigung den Vertretern des alten Denkens überläßt, begünstigt das Entstehen eines alten Deutschlands.“

Mechtersheimer attackiert mit seinem Brief insbesondere den Parteivorstand, der am Dienstag die sofortige Anerkennung der DDR und damit der Zweistaatlichkeit gefordert hat. Selbstbestimmt entscheiden über ihre Zukunft könnten die DDR -Bürger erst, wenn ihre staatliche Existenz gesichert sei, hieß es dazu beim Vorstand. Die Bundestagsfraktion geht auf Distanz: ein Antrag auf sofortige DDR-Anerkennung kam nach einer dreistündigen, kontroversen Debatte nicht einmal zur Abstimmung.

Verabschiedet wurde ein Antrag, in dem erst nachträglich die sehr abschwächende und unverbindliche Formulierung einer „faktischen Anerkennung einer souveränen Zweistaatlichkeit“ eingefügt wurde. Die Parlamentarier sprechen sich außerdem lediglich für „großzügige humanitäre Hilfe“ für die DDR ohne politische und wirtschaftliche Bedingungen aus. Wirtschaftliche Hilfe, so wurde zuvor in der Debatte von Realo-Vertretern vorgetragen, solle es für die DDR solange nicht geben, wie nicht ein „runder Tisch“ mit der Opposition und ein Wahlgesetz existierten. Wichtiger als Kredite und Investitionen sei es, der DDR die Zeit zu lassen, den Reformprozeß voranzubringen.