DDR-Liberale kritisieren Volkskammertagung

■ Ende der „Abstimmungsmaschine“ angekündigt / Liberale und Christdemokraten fordern Streichung der SED-Führungsrollen / SED-Reformer fordert Freilegung und Nutzung sozialdemokratischer Traditionen

Berlin (taz) - „Die Abstimmungsmaschine der Volkskammer hat zum letzten Male funktioniert“, wurde im liberaldemokratischen 'Morgen‘ der Abstimmungssieg von Maleuda (DBD) über Gerlach (LDPD) bei der Wahl des Volkskammerpräsidenten kommentiert. Verpackt war diese harsche Wertung in ein Schreiben von zwei Mitarbeitern der Hochschule für Schauspielkunst Ost-Berlin an die LDPD -Zeitung, das anstelle eines Kommentars abgedruckt wurde. Die Wahl hätten die „von der SED kontrollierten gesellschaftlichen Organisationen“ entschieden. Der Politische Ausschuß des Zentralvorstandes der LDPD, der am Dienstag gemeinsam mit den Bezirksvorsitzenden tagte, äußerte sich nicht öffentlich zu diesem Ereignis. Er zeigte sich allerdings zufrieden über „auf der Tagung und in ihrem Umfeld geäußerte Bereitschaft der SED (...), auf den in Artikel 1 der Verfassung festgeschriebenen Führungsanspruch durch die SED zu verzichten.“ Weiter forderten sie einen „runden Tisch“ mit den Bürgerrechtsbewegungen und „wirklich freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahlen“. In dem Bericht wird außerdem die Bildung einer „eigenständigen Jugendorganisation mit liberal-demokratischer Orientierung“ angekündigt. Für die derzeit laufenden Koalitionsverhandlungen, die bis Freitag zu einem Abschluß kommen sollen, wird eine harte Verhandlungsführung angedeutet: „Keinesfalls dürfe es um eine Regierungsbeteiligung um jeden Preis gehen.“ Die LDPD trage allein „Verantwortung vor dem revolutionären Volk der DDR“.

Die christdemokratische 'Neue Zeit‘ kommentierte die Wahl des Volkskammerpräsidenten zurückhaltender: Sie wäre vielleicht anders ausgefallen, würde die Volkskammer nicht das „Parteienspektrum im Lande (...) verzerrt widerspiegeln.“ Weitergehende Positionen finden sich in diesem Blatt in einer Erklärung der Ostberliner CDU. Sie fordert „Streichung der „Führungsrolle der SED“ als „nicht der politischen Realität“ entsprechend. Auch die Nationaldemokraten (NDPD) konnten bei diesen Profilierungsbemühungen der „Blockparteien“ nicht zurückstehen. Sie wollen in der künftigen Regierung stärker als bisher vertreten sein.

Ausgerechnet im NDPD-Organ 'National-Zeitung‘ meldete sich am Dienstag ein SED-Reformer zu Wort. In einem Interview sprach Andre Brie, Lehrstuhlleiter am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg, über die Perspektiven der DDR. Er diagnostizierte als „Schlüsselproblem“ der gegenwärtigen Krise die „bisherige Nichtbewältigung des Stalinismus“. Überwunden werden müsse er durch Abkehr vom „konfrontativen Denken“ in Entweder-oder -Kategorien und „radikale Demokratisierung“. Die „sogenannte führende Rolle“ der SED lehnte er in der bisherigen Form ab: „Die SED kann sich diese Rolle nicht administrativ sichern.“ Zugleich ließ er keinen Zweifel daran, daß die SED auch künftig eine entscheidende Rolle spielen müsse. Voraussetzung dafür wäre, daß sie „sozialdemokratische Konzepte und Traditionen“ in der eigenen Organisation freilege und „mitnutze“. Er äußerte die Überzeugung: „Die SED ist in der Lage, sich von innen her grundlegend zu erneuern.“

Zur Reform des Justizwesens äußerte sich der Staatssekretär im Ministerium für Justiz, Wittenbeck, im 'Neuen Deutschland‘. Es gab, berichtete er, „seitens der Partei und Staatsorgane“ Fälle, „in denen versucht wurde, von außen direkt in schwebende Verfahren einzugreifen“. „Mit solchen Praktiken muß rigoros Schluß gemacht werden.“ Die Richter sollten künftig nicht mehr gewählt, sondern ohne zeitliche Begrenzung vom Justizministerium berufen werden. Weiter sollten die Strafgesetze über „Staatsverbrechen und Straftaten gegen die staatliche Ordnung“ verändert werden. Eine Rehabilitierungsgesetz für „zu Unrecht Verurteilte“ sei vorzubereiten. Nach Auffassung seines Ministeriums sollte das neue Reisegesetz auch keine Visapflicht enthalten und „Versagungsfälle“ auf solche Personen zu beschränken, gegen die ein Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren anhängig ist.

Ws