Die Reconquista von Saint Gilles

Seit März wird die südfranzösische 16.000-Seelen-Stadt Saint Gilles von einem Bürgermeister der Front National regiert / Sehr gewöhnliche Jagdszenen aus der Camargue  ■  Aus Saint Gilles A.Smoltczyk

Ein sehr gewöhnlicher Ort, dieses Saint Gilles-du-Gard, gelegen auf einer sehr gewöhnliche Erhebung in der ockerfarbenen Flachheit der Camargue. Ein Campingplatz (zwei Sterne), ein Süßwasserhafen am Rhone-Sete-Kanal und gleich gegenüber eine raffinerieartige Anlage mit Rohren und silbernen Türmchen: die Schnapsfabrik des Ortes. Vor einigen Jahren explodierte sie einmal, worauf sich Hektoliter von Anis-Schnaps in stark verdünnter Form den Kanal hinab ins ausgetrocknete Languedoc ergossen.

Sonst gibt es über Saint Gilles eigentlich nichts Nennenswertes zu berichten. Eine Stadt wie jede andere in Südfrankreich. Mit einem „Hotel du Globe“ und einem „Cafe des Arts“, in dem noch die Plakate des letzten Stierkampfs hängen. „Eine großartige Kampfeslust und Antizipationsfähigkeit“ hätten, so schreibt der 'Nimes Matin‘, Papayou und Lou Beffi in der Arena unten am Kanal an den Tag gelegt. Saint Gilles kennt seine Kampfstiere. Unter „Demographisches“ verzeichnet der 'Nimes Matin‘ für diesen Monat zehn Eheschließungen, fünf franko-französische, vier maghrebinische und eine gemischte.

Oberhalb von Arena und Schnapsfabrik thront das Rathaus von Saint Gilles, ein burgartiger Bau mit Zinnen und links und rechts neben dem Eingang das übliche „Liberte, Egalite, Fraternite“. Im Treppenaufgang hängt eine andere Plakette, ein mal ein Meter, mit dem Artikel III der Menschenrechtserklärung: „Der Ursprung aller Souveränität liegt seinem Wesen nach in der Nation.“ Die hat der neue Bürgermeister anbringen lassen, nach seiner Wahl am 19.März. Damals waren, zum ersten Mal seit dem Brand der Schnapsfabrik, wieder Kameraleute und Journalisten nach Saint Gilles gekommen, denn mit Charles de Chambrun war ein Mitglied der rechtsextremen Front National zum Oberhaupt einer mittelgroßen Stadt von 16.000 Einwohnern geworden. Eine Premiere.

„Man wird noch von Saint Gilles sprechen“, sagt denn auch Monsieur Magnani, der Stadtkämmerer, aber er meint es anders: Der Herr Graf mit seinen „vielen Kontakten zu hochgestellten Persönlichkeiten der Finanzwelt“, sagt er, sei ein Gewinn für die Stadt. „Ein sehr gebildeter Mann, der neue Bürgermeister, mit großen Projekten.“ Der Flughafen solle ausgebaut werden, die gefährliche Schnapsfabrik verlegt und an ihrer Stelle ein neues Hafenbecken ausgeschachtet werden, so daß aus dem harmlosen Saint Gilles in Bälde ein „europäischer Knotenpunkt werde...“ Monsieur Magnani ist seit dreißig Jahren im Rathaus, beileibe kein Anhänger Le Pens, nur ein gewöhnlicher Stadtkämmerer mit sehr alltäglichen Ansichten: „Die Front National sagt viel Wahres, nur manchmal etwas überspitzt. Aber zuviel ist zuviel, solange die unbegrenzt Frankreich überschwemmen.“

Rassismus

nach Gutsherrenart

Im Amtszimmer von Charles de Chambrun riecht es nach Ledergarnitur. Monsieur trägt Tweed und hat sich eine Krone und zwei himmelblaue „C“ aufs Hemd sticken lassen. Kein polternder Prolet in Schaftstiefeln wie sein Parteiführer, dessen Bild unter dem des Staatspräsidenten hängt, sondern ein Bürgermeister nach Gutsherrenart. Auf jede Frage gibt es eine kultivierte Antwort: „Ich habe mir Saint Gilles ausgewählt, weil hier die Christenheit an einem Scheideweg stand: Von hier aus begannen die Karolinger die Reconquista, um die Herrschaft der Mauren und des Islam zurückzudrängen.“ De Chambrun war mit 23 Jahren jüngster Bürgermeister Frankreichs (in seiner Heimatstadt im Departement Lozere), dann jüngster Abgeordneter und schließlich Mitte der sechziger Jahre jüngster Minister im Kabinett von de Gaulle, verantwortlich für den Export. Politik, sagt er, interessiere ihn nicht aus Karrieregründen, wie die Junggaullisten heutzutage, sondern weil sie immer mit „Leidenschaftlichkeit“ einhergehe. Ob er deswegen 1986 von der neogaullistischen RPR zur Front des passionierten Hetzers Le Pen hinübergewechselt sei? „Ich erkenne mich in der RPR, diesem Amalgam von europagläubigen Technokraten, nicht mehr wieder. Aber glauben Sie mir: Die alten Weggefährten des Generals, wie Michel Debre (langjähriger Premierminister, d.Red.), stehen hinter mir. Es ist in kleinen Bewegungen einfacher, seine Ideen zu vertreten“, meint der Graf.

Vor ihm auf dem Schreibtisch liegt ein Buch des G.R.E.C.E., eines radikal rechten Kulturvereins abendländischen Geistes, dem Frankreich die zweischneidige Formel des „Rechts auf die Differenz“ verdankt. „Meinetwegen können die sich ihre Moschee bauen, solange wir nicht zahlen müssen“, meint Chambrun und hebt an zu einem sehr kultivierten Referat über das Wesen des Islam im allgemeinen und der Maghrebiner von Saint Gilles im besonderen. So schreibe der Koran den Wüstenvölkern etwa ihre Gastfreundlichkeit vor, was im Falle seiner Gemeinde Saint Gilles allerdings dazu geführt habe, daß marokkanische Familien illegale Einwanderer bei sich im Keller versteckt hätten. Da dies natürlich nicht ginge, sei der Magistrat gezwungen gewesen, die Spreu vom Weizen zu trennen und die Illegalen der Polizei anzuzeigen, während die ordentlich gemeldeten Maghrebiner bleiben durften. Ob Le Pen mit der Kommunalpolitik des Grafen einverstanden sei? Monsieur wird konkret: „Nun, ich kann sie selbstverständlich nicht alle rauswerfen oder füsilieren lassen“, spricht der Graf, „ich bin Realist und Humanist.“ Aber sie seien zuviele.

Zuviel - das ist im Falle von Saint Gilles ein Ausländeranteil von 30 Prozent: „Seit fünfzehn Jahren hat man die Hähne geöffnet, und ich stehe vor einem Problem, das eigentlich unlösbar ist. Das Schulsystem ist völlig untauglich zur Integration, es produziert Versager und es produziert Apartheid, weil die französischen Eltern ihre Kinder aus Klassen nehmen, in denen zuviele Ausländer sind.“ Er als Bürgermeister könne den Mangel nur verwalten, also die Kinder auf die kommunalen Schulen verteilen. Aber über all das spricht der Graf nicht gerne und wechselt lieber über zu Pipin dem Kurzen und dem großen Karl, der in Saint Gilles einst Schüler war.

Der Bettelmönch

und die Obsthändlerin

Vor 1.300 Jahren war es, da kam der Bettelmönch Gilles aus Griechenland herübergewandert und ließ sich in einer Grotte der Camargue nieder, um sich, genährt von Früchten und der Milch einer getreuen Hirschkuh, ganz dem Gebet zu widmen. So ist es auf der dunklen Leinwand abgebildet, die in der Abtei von Saint Gilles hängt, einer Stiftung von König Wamba an den geheiligten Ausreiser aus dem Osten. Auf dem Treppengeländer vor der Abtei rutschen marokkanische Gören herum. Sonst liegt der Kirchplatz still in der mittäglichen Wärme des Frühherbstes.

Im Schatten ihrer Markise steht die Besitzerin der Obsthandlung „Le Primeur Saint Gilles“, eine junge, schwarzgelockte Frau, deren Brille von einer praktischen rosa Kette gesichert wird. Nach dem Verkauf einer Birne auf den neuen Herren im Rathaus angesprochen, setzt die sympathische Obsthändlerin quasi aus dem Stand zu einem längeren Monolog an. Wir hören zu: „Wissen Sie, ich bin eigentlich unpolitisch, kann mir nach den paar Monaten noch kein Urteil erlauben. Aber es gibt zuviele von ihnen. Sie wollen sich nicht anpassen, nicht so leben wie wir... Ja, ich bin Italienerin, aber mein Mann ist aus Saint Gilles. Die provozieren uns, die machen uns ja zu Rassisten. Neulich haben sie mir Graffiti auf den Laden gesprüht... Nein, ich habe keinen Beweis. Aber sie haben ja selbst geschrieben, daß Saint Gilles islamisch wird und die Franzosen verschwinden müssen... Woher ich das weiß? Da waren Flugblätter im Briefkasten: Saint Gilles - arabische Stadt... Mag sein, daß das von der Front National kam, aber egal: es gibt zu viele von ihnen. In meinem Dorf sind sie ganz nett, sagen Guten Tag. Hier in der Stadt nicht.“

Ein Auto ist auf den Platz gefahren, um die Obsthändlerin abzuholen. Die Kinder rutschen noch auf dem Treppengeländer. Den „Le Primeur Saint Gilles“ gibt es erst seit ein paar Monaten. Eigentlich hatte, erfahren wir später, ein arabischer Metzger in das Geschäft einziehen sollen.

„Es ist besser geworden...“

Im Westen der Stadt liegt ihr Viertel, die „Cite Sabatot“. Hier wohnen zum großen Teil Marokkaner, die als saisonale Tagelöhner auf den umliegenden Obst-, Wein- und Gemüsefeldern arbeiten. Die Arbeitslosigkeit in Saint Gilles liege bei 15 Prozent, hatte der Bürgermeister gesagt, doch sei dies mehr ein kulturelles Problem...

Driss sitzt mit seinen Freunden im Schatten des Schulgebäudes. 18 Jahre ist er alt und steht im Dienste des „Geflügelten Stiers“, der Reismarke der Camargue. Der Reisbauer, bei dem Driss angestellt ist, sei nicht gerade begeistert gewesen über die Wahl der Front-National-Liste. Er hatte Angst, seine billigen Saisonarbeiter zu verlieren. Aber dann kam es gar nicht so schlimm. Im Gegenteil: „Es ist besser geworden“, findet Driss, und keiner seiner Kumpel widerspricht, „wir werden weniger angepöbelt als früher. Ich glaube, weil die Franzosen sich jetzt mehr zu Hause fühlen. Die Rassisten haben jetzt, was sie wollen, und sind friedlich. Na ja, mal abwarten, ob sich das noch ändert.“ Und die fünf neueingestellten Flics, die in Saint Gilles patrouillieren? Die Polizeikontrollen, die in der Cite Sabatot systematisch, Haus für Haus, durchgeführt wurden, auf der Suche nach Illegalen? „Ja, schon. Aber wer sich an die Regeln hält, dem wird nichts passieren. Chambrun macht eben seinen Job, und die Franzosen sind zufrieden“, sagt Mohamed. Und wenn es schlimmer wird eines Tages, würde er eben woanders hinziehen.

Eine erstaunliche Haltung? In der Cite Sabatot macht man sich schon lange keine großen Illusionen mehr über Multikulturalität und Integration: „Klar gibt es Sachen zu ändern. Aber wer glaubt schon dran?“ meint Driss. Rassismus gab es schon vor dem 19.März, und im „Cafe Mistral“ darf man sich als Nordafrikaner ebenfalls schon lange nicht mehr blicken lassen. Daß der Fußballklub Saint Gilles Quoten für Ausländer hat, ist sogar gesetzlich festgelegt. Also weshalb der ganze Rummel um Chambrun? Die schlimmsten Rassisten säßen sowieso in den bürgerlichen Parteien, sagt man in der Cite Sabatot.

Am Rande der Siedlung zeigt ein Wegweiser in Richtung Beaucaire, der Nachbarstadt. Dort hatte Ende Oktober der liberale Bürgermeister Jean-Marie Andre marokkanischen Kindern Schule, Kantine und Bus verwehrt, weil es „zuviele von ihnen“ gäbe. „Zuviele“ waren in Beaucaire 25 Prozent.

Die Macht der Gefühle

Es hat sich etwas geändert in Saint Gilles. Alle sagen es, doch keiner kann es benennen. „Der Vandalismus ist zurückgegangen“, will ein Gast im Cafe Mistral bemerkt haben. Aber das sei „nur so ein Gefühl“ von ihm, Zahlen gebe es nicht. In Saint Gilles wird mit Gefühlen Politik gemacht, und seien es Gefühle der Angst: „Offiziell hat es noch keine Räumungen gegeben. Die marginaux sind nach der Wahl freiwillig gegangen, um so besser. Das hätte sonst jeden Moment losgehen können“, bedeutet Maurice Blanc, stellvertretender Bürgermeister und Mitglied der honorigen RPR. Noch würden den Maghrebinern Sozialhilfe und Kindergeld von der Gemeinde ausbezahlt. Aber jeder Antrag wird „gründlicher und länger geprüft als vorher“, heißt es im Rathaus.

Ein kleines Grüppchen von Nachfolgern des heiligen Gilles führt einen publizistischen Untergrundkampf gegen die Reconquista des Herren von Chambrun. Um das Blättchen 'La Biche qui rit‘ („Die lachende Hirschkuh“) geschart, versuchen sie, gegen die faktische Macht der Gefühle anzugehen. Ein Kampf gegen Gespenster ist kein einfaches Unterfangen. So beschränkt sich die „Biche“ darauf, die Vetternwirtschaft des Magistrats zu geißeln, jene Front -National-Gemeinderätin etwa, die plötzlich einen Posten in der Gemeindeverwaltung ergattern konnte. Oder daß der FN -Bürgermeister ausgerechnet das arabische Emirat Quatar um einen Kredit für seine großen Projekte bemüht. „Natürlich, eigentlich sollten wir alle mehr tun“, hatte die Apothekerin gesagt, als sie die „Biche“ aus ihrer Handtasche kramte. Aber es sei ja noch nichts passiert in den sechs Monaten des neuen Magistrats. Und überhaupt: Saint Gilles sei eigentlich eine ganz gewöhnliche Stadt.