„Es gibt noch Kurden in Kurdistan“

■ Mit ihrer Deportations- und Entvölkerungspolitik will die Regierung in Bagdad die kurdische Bewegung zerschlagen / Erschwerte Bedingungen für den Befreiungskampf in den Bergen / Gemeinsame Front in Irakisch-Kurdistan / Interview mit dem Führer der „Patriotischen Union Kurdistan“ (Irak), Jalal Talabani

taz: Welche Ziele verfolgt die irakische Regierung mit ihrer Deportationspolitik in Kurdistan?

Jalal Talabani: Die Regierung in Bagdad will die kurdische Gesellschaft, ihre Kultur, ihr soziales Leben und ihre Wirtschaft zerstören. Es handelt sich um einen Plan, mit dem nicht nur die Bevölkerung deportiert und Kurdistan arabisiert werden soll, sondern man will damit auch eine „Assimilation der Kurden in die arabische Nation“ erreichen, wie sie das nennen.

Zielt diese Politik nicht auch auf die Austrocknung und Zerschlagung des kurdischen Widerstandes?

Natürlich versucht die Regierung, mit der Entvölkerung Kurdistans die bewaffnete nationale Widerstandsbewegung der Kurden zu zerstören. Es gibt keine Dörfer mehr, in denen unsere Kämpfer, die Peschmerga, illegal leben können, wo sie im Winter Schutz suchen, sich verpflegen oder Informationen sammeln können. Es ist eine leere Gegend geworden, und das Leben der Kämpfer ist sehr schwer.

Ist die Strategie der Regierung also erfolgreich?

Nein, die Peschmerga können selbst in einem leeren Gebiet leben. Es gibt noch Kurden in Kurdistan, die sie unterstützen, zum Beispiel diejenigen, die jetzt in den Lagern entlang der Hauptstraßen leben. Außerdem sind da noch die Kurden, die sich als Söldner verdingt haben, um ihre Familien zu ernähren, oder die zwangsrekrutiert wurden (für die „National Defence Bataillons“, eine unter irakischem Kommando stehende, vorwiegend aus Kurden bestehende paramilitärische Organisation; Anm. d.Red.). Sie sind keine Verräter, sie sympathisieren mit der kurdischen Bewegung. Die kurdischen Parteien haben sogar ihre Ableger unter diesen Söldnern. Daher ist es den Peschmerga auch immer noch möglich, sich Informationen, Nahrung und sogar Waffen zu beschaffen.

Das klingt so, als hätte sich nichts verändert.

Doch, es gibt Probleme. Jetzt sind die Peschmerga auf bestimmte Stützpunkte angewiesen, in denen sie ihre Lebensmittel lagern, wo sie sich bei Regen und Schnee schützen können. Diese Orte sind oft erst nach vielen Stunden Fußmarsch zu erreichen, während die Kämpfer früher einfach in das nächste Dorf gehen und sich an einen gedeckten Tisch setzen konnten. Trotzdem sind wir optimistisch, weil es nicht das Ziel der irakischen Kurden ist, die Armee zu bekämpfen und Bagdad zu erobern. Unsere Strategie ähnelt der der algerischen Revolution: Wir halten die Truppen auf Trab, wir ermüden und zermürben sie, indem wir sie zu ständiger Alarmbereitschaft zwingen. Das kann man mit kleinen, mobilen Gruppen von Peschmerga erreichen.

Hat die Deportations- und Entvölkerungspolitik zu einer engeren Zusammenarbeit der verschiedenen kurdischen Parteien geführt? Was ist aus der Kurdischen Front geworden, die Ihre Organisation, die Patriotische Union Kurdistans (PUK), in der letzten Phase des Golfkriegs mit der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) von Massoud Barzani gebildet hat?

Die Front schließt heute fünf kurdische Parteien ein, die PUK, die KDP, die Demokratische Volkspartei Kurdistans, die kurdische Sozialistische Partei und den kurdischen Zweig der irakischen kommunistischen Partei. Die Führung ist kollektiv; es gibt ein Exekutivkomitee, in dem ein Vertreter jeder Partei sitzt. Die Front wird ihre bewaffneten Kräfte in einer einzigen revolutionären Armee vereinigen. Außerdem sind wir jetzt dabei, Abteilungen für auswärtige Beziehungen, Public Relations etc. zu bilden.

Massoud Barzani erwähnte kürzlich in einem Gespräch mit der taz neben einer kurdischen auch eine irakisch-kurdische Front, in der auch islamische Kräfte mitarbeiten. Wie stehen Sie dazu?

Was die irakische Front anbelangt, so versuchen wir, ein Bündnis aller Oppositionsparteien aufzubauen, einschließlich der islamischen und arabisch -nationalistischen Parteien. Es gab mehrere Treffen in Damaskus, bei denen Barzani die kurdische Front repräsentierte. Aber diese Gespräche hatten keine praktischen Konsequenzen. Nach wie vor bestehen Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Gruppierungen. Wir hoffen, daß in Zukunft weitere Versuche unternommen werden, eine solche Front mit den islamischen Kräften aufzubauen.

Richten wir den Blick über die Grenze. Wie sind die Beziehungen zwischen der PUK und der PKK im türkischen Teil Kurdistans, von der mehrere Mitglieder derzeit in der BRD vor Gericht stehen, weil ihnen vorgeworfen wird, Dissidenten ermordet zu haben?

Wir gehen davon aus, daß die PKK die logische Antwort auf die türkische Politik gegen die Kurden ist. Wenn die Regierung die Existenz der Kurden negiert, wenn sie selbst die kurdische Sprache verbietet, wenn sie alle möglichen brutalen Mittel gegen die Kurden einsetzt, dann gibt es natürlich eine PKK, die gegen eine solche Regierung kämpft. Im Frühsommer 1988 haben wir ein Abkommen mit der PKK unterzeichnet, um unsere Beziehungen zu normalisieren. Wir versuchen, die PKK davon zu überzeugen, ihre Beziehungen zu allen anderen kurdischen Parteien und Gruppen in der Türkei zu verbessern, weil wir glauben, daß es auch dort eine gemeinsame kurdische Front geben sollte. Aber so weit sind wir leider noch nicht. Nach der Unterzeichnung unseres Abkommens mit der PKK gibt es aber immerhin schon Anzeichen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den kurdischen Parteien. Vor drei Jahren kam es zu vielen inneren Konflikten, zum Beispiel am kurdischen Nationalfeiertag Noruz. 1988 und 1989 gab es das nicht mehr. Die PKK zu isolieren ist nicht der richtige Weg. Man muß die Beziehungen vielmehr normalisieren und mit der Führung der PKK einen Dialog aufnehmen, damit sie ein Vorgehen vermeiden, das dem Kurdenproblem in Europa nur schadet. Weltweit zeichnet sich ein neuer Trend ab: Es wird zunehmend versucht, alle Konflikte mit politischen Mitteln zu lösen. Auch die Kurden müssen solchen grundlegenden Änderungen Rechnung tragen.

Apropos politische Lösungen: Wann werden Sie mit der Regierung in Bagdad verhandeln?

Wir gehen grundsätzlich davon aus, daß es eines Tages Verhandlungen zwischen der kurdischen Revolution und der Regierung in Bagdad geben wird. Wir kämpfen ja gerade, um der Zentralregierung eine politische Regelung aufzuzwingen. In der Praxis brauchen wir dafür aber erstens eine starke Bewegung, zweitens müssen wir die internationale Situation ausnutzen, drittens uns die Unterstützung arabischer Länder und Organisationen sichern, viertens müssen wir weltweit die öffentliche Meinung mobilisieren und entsprechenden Druck auf die Supermächte und die EG ausüben. Eine politische Lösung anzustreben heißt schließlich nicht aufzugeben oder betteln zu gehen. Unser Gegner wird derzeit von allen Seiten unterstützt: Die UdSSR ist der wichtigste Waffenlieferant, danach kommt Frankreich, und die BRD hilft bei der Entwicklung von C-Waffen. Uns unterstützt im Moment niemand.

Vor zwei Jahren, als der Golfkrieg noch andauerte und die iranischen Truppen Fao im Südirak besetzt hielten, erklärte einer Ihrer Vertreter gegenüber der taz, die PUK strebe einen föderativen Irak an: ein Bundesstaat für die Schiiten im Süden, ein zweiter für die Sunniten, die sich in der Mitte konzentrieren, und ein dritter Bundesstaat für die Kurden im Norden. Ist das heute noch Ihr Ziel?

Das war nie die Haltung der PUK. Wir sind immer für eine Föderation zwischen Arabern und Kurden eingetreten, für das Recht auf Selbstbestimmung im Rahmen des Irak. Wollten wir die Bevölkerung nach Religionszugehörigkeiten aufteilen, dann müßten wir auch die Kurden aufteilen, unter denen es neben den Sunniten auch Schiiten und Christen gibt. Wir sind eine säkulare Bewegung. Unser Fernziel ist die Selbstbestimmung, unser Nahziel, den Völkermord an den Kurden zu beenden und Schritt für Schritt Autonomie und Demokratie zu verwirklichen.

Wie haben sich seit Ende des Golfkrieges Ihre Beziehungen zu Iran entwickelt? Haben sie keine Angst vor dem Abschluß eines iranisch-irakischen Friedensvertrages, wenn sie sich an die Ereignisse des Jahres 1975 erinnern? Schließlich hat der Schah die Kurden unter Barzani damals fallen gelassen, nachdem beide Staaten ihre Grenzstreitigkeiten vertraglich geregelt hatten.

Wir gehen von zwei Möglichkeiten aus: erstens, Iran und Irak werden schließlich ein Friedensabkommen unterzeichnen. Zweitens, beiden Ländern gelingt es nicht, in naher Zukunft eine solche Übereinkunft zu erzielen. In unserer Politik müssen wir uns allerdings an der ersten Möglichkeit orientieren. Die kurdische Front hat deshalb beschlossen, den bewaffneten wie den politischen Kampf fortzusetzen. Und selbst wenn es zu einer Übereinkunft kommen sollte, wird es uns möglich sein, den Kampf fortzusetzen.

Sie kämpfen gegen eine arabische Regierung und suchen gleichzeitig Unterstützung in der arabischen Welt. Sind Sie dabei erfolgreich?

Wir suchen die Unterstützung aller arabischer Parteien und Strömungen. Die islamische Bewegung in der ganzen arabischen Welt unterstützt die Kurden - gemäß der Prinzipien des Islam. Die Kurden sind eine moslemische Nation. Die Ägypter sind z.B. Sunniten wie die Kurden auch. Die islamische Bewegung in Ägypten geht davon aus, daß Saddam Hussein sich mit dem Krieg gegen die Kurden außerhalb des islamischen Gesetzes gestellt hat, weil Sunniten gegen Sunniten kämpfen.

Auf der anderen Seite verurteilen auch die kommunistischen Bewegungen den Irak. Und es gibt noch einen anderen Teil der arabischen Gesellschaft, in Algerien, Marokko und Tunesien, der die Kurden unterstützt: die Berber und die Kabylen, die Minderheiten in diesen Ländern.

Und die Regierungen?

Heute unterstützt uns nur Syrien, das den Einsatz chemischer Waffen verurteilt hat. Wir haben angefangen, an die Türen der arabischen Regierungen zu klopfen und sie nach ihrer islamischen Einstellung gegenüber den Kurden zu befragen. Offiziell sind alle islamisch. Ich glaube nicht, daß wir sofort angehört werden. Aber es wird Änderungen geben, denn die inner-arabischen Beziehungen sind nicht stabil. In internationaler Hinsicht war auch die erste große Kurdenkonferenz im Oktober in Paris ein Erfolg. Sie war ein guter Anfang, die Öffentlichkeit für den gerechten Kampf des kurdischen Volkes zu mobilisieren.

Interview: Beate Seel