West-Berlin heut Hauptstadt der DDR-Bürger

Millionen werden erwartet / Senat will Chaos bändigen / Reiseerleichterungen für Westberliner angekündigt  ■  Aus West-Berlin Brigitte Fehrle

Ein Volk ist auf Reisen. 10 Millionen DDR-BürgerInnen haben in der letzten Woche ein Visum für West-Reisen beantragt. Für viele heißt das Ziel West-Berlin. Bis Freitag abend hatten schon eine halbe Million die innerstädtischen Grenzübergänge passiert. Die Stadt ächzte unter dem Ansturm. Zahlreiche U-Bahnhöfe mußten wegen Überfüllung geschlossen werden. Und wenn dieses Wochenende so freudig und friedlich über die Bühne gehen soll wie das letzte, wird ein jeder in dieser Stadt sein Höchstmaß an Geduld und guter Laune aufbieten müssen.

West-Berlin hat generalstabsmäßig gerüstet. Man sei darauf eingestellt, sagte die Polizei, ganze Teile der Innenstadt für den Autoverkehr zu sperren. Alle Busse und U-Bahnwaggons sind im Einsatz. Die DDR hat dem Westen für diese tollen Tage S-Bahnzüge ausgeborgt. Mehrere neue U-Bahnhöfe wurden eröffnet, und am Übergang Invalidenstraße brachen die Ost -Grenzer reaktionsschnell ein breiteres Loch in die Mauer, um den Trabi-Rückstau in den Ostteil der Stadt abzubauen.

Schon am Freitag früh standen wieder lange Schlangen von DDR-BürgerInnen vor Banken und Postämtern und warteten auf die Auszahlung der 100 DM Begrüßungsgeld. Alle Senatsverwaltungen, Gerichte und Finanzämter haben zusätzlich Auszahlstellen eingerichtet: mehr als 350 im ganzen Stadtgebiet. Der Regierende Bürgermeister Momper wird persönlich im Rathaus Schöneberg die blauen Scheine ausgeben.

Wie in Berlin sieht es auch am Freitag in allen grenznahen Städten des Bundesgebietes aus. Vier Millionen Ost-Reisende meldeten die Grenzstellen bis zum Abend. Der Appell der DDR -Behörden an ihre Bürger, wegen der chaotischen Verhältnisse auf den Straßen ihre Besuchsreise zu verschieben, kam zu spät. In Lübeck war die Innenstadt nach Angaben aus dem Rathaus „schwarz vor Menschen“ und aus Hamburg meldete die Polizei Trabis „Reihe an Reihe“ auf den Gehsteigen. „Die Stadt ist jetzt voll“, erklärte der Polizeisprecher der Stadt Lüneburg. Keiner wollte auf ihn hören, die Massen strömten weiter. An den bayerischen Grenzübergängen und in Herleshausen (Hessen) stauten sich Trabis und Wartburgs auf mehr als 70 Kilometer. 80 Kilometer lang staute sich der Verkehr am niedersächsischen Übergang Zorge-Ellrich. Die Wartezeiten betrugen überall mehr als sechs Stunden, obwohl die Grenzpolizei alle Wagen durchwinkte. Die Lage auf den Straßen ist nach Auskunft der Polizei „verheerend“. Die DDR -Reichsbahn setzte gemeinsam mit der Bundesbahn Sonderzüge zwischen Städten der DDR und der BRD ein. Sie seien „brechend voll“, meint die Polizei. Viele kamen erst mit mehrstündigen Verspätungen an. In Reichenbach/Sachsen hatten DDR-Bürger, die im Zug keinen Platz mehr bekommen hatten, die Gleise solange besetzt, bis zusätzliche Waggons angehängt wurden.

Wer zu einem Einkaufsbesuch in den Westen kommt, wird die Geschäfte am Samstag, zum Teil auch am Sonntag offen finden. In Berlin, wo am letzten Wochenende eine Lebensmittelkette noch Kaffee und Schokolade verschenkt hatte, werden jetzt Wurstpakete zu 30 Mark Ost verkauft.

West-Berlin, jetzt keine Insel mehr, wurde für die Einheimischen inzwischen zum Kerker. Man kommt nicht mehr raus. Die Transitwege sind völlig verstopft. Da wurde es höchste Zeit, daß gestern abend der für Außenpolitik zuständige Kandidat im Politibüro der SED angekündigt hat, Reiseerleichterungen für West-Berliner in Aussicht gestellt hat. Vorläufig bleibt für die geplagten West-Berliner nur: Go East.