„Wir sollen wie Leibeigene funktionieren...“

■ Nach wie vor werden die meisten Kohlebergwerke in der UdSSR bestreikt / Die Zusagen der sowjetischen Regierung an die Streikenden wurden nicht eingehalten Das Oberste Gericht der Russischen Sowjetrepublik erklärt die Streiks für illegal / Ein Interview mit dem Sprecher des Streikkomitees in Workuta, Terjochin

Nikolaj Alexejewitsch Terjochin, 28, Elektroschlosser der unterirdischen Grube Komsomolskaja in Workuta, hat in seiner Freizeit ein Fernstudium im Fach Jura abgeschlossen. Er hält sich zur Zeit als Pressebevollmächtigter des Workutaer Arbeiter- und Streikkomitees in Moskau auf.

taz: Sie waren sehr gern zu diesem Gespräch bereit?

Terjochin: Wir haben es sehr schwer. Wir brauchen materielle, moralische und überhaupt jegliche Hilfe in unserer komplizierten Situation. Es geht um unsere Existenz, und wir führen einen sehr ungleichen Kampf: Die Bürokraten haben sich auf allen Ebenen der Hierarchie - regional wie überregional - gegen uns zusammengeschlossen.

Und wie haben sie das geschafft?

Seit dem ersten Oktober streiken alle unsere Gruben außer der „Zapoljarnaja“. Wenn einige noch eingeschränkt arbeiten, dann deshalb, weil Teile der jeweiligen Stadt und der umliegenden Siedlungen mit Methangas geheizt werden, das nur beim unmittelbaren Abbau entsteht. Diese Gruben liefern aber ihre Produktion nicht mehr aus. Dafür gibt es nur eine Ursache: Die Regierung hat sich nicht an ihre Zusagen gehalten, die sie uns in dem Vertrag am Ende der Juli -Streiks gemacht hat. Damals waren sie alle noch sehr erschrocken, aber jetzt hat ihr Schreck schon mächtig nachgelassen.

Man hat unsere Forderungen zunächst als gerechtfertigt angesehen, und für ihre Erfüllung waren Fristen festgelegt worden. Michail Sergejewitsch (Gorbatschow, d.Red.) selbst hat unsere Streikbewegung öffentlich als Perestroika -Phänomen begrüßt. Aus seiner Sicht richtete sich die Unzufriedenheit der Bergleute vor allem gegen die örtlichen Machthaber. Mittlerweile sieht aber alles ganz anders aus: In allen strittigen Punkten betätigt sich Moskau als Hauptbremser. Dort, also bei den Ministerien und Behörden, liegt jetzt für uns die Wurzel allen Übels. Die alte Garde will von „Umgestaltung“ nichts wissen, sie sucht lediglich nach „neuen Methoden“. Unser Ministerpräsident, Genosse Ryschkow, gehört zu diesen Leuten, ebenso sein Stellvertreter, der Genosse Woronin, und überhaupt diese ganze Bande, deren Namen aufzuzählen ich keine Lust mehr habe.

Bande?

Die Regierung eines zivilisierten Landes sollte wichtige Zusagen entweder einhalten - oder zurücktreten. Unsere Funktionäre ziehen es aber vor, uns mit Kot und Dreck zu überschütten, anstatt vor Scham zu erröten! Und dann reden sie noch von Rechtsstaat! Der Appell des stellvertretenden Ministerpräsidenten Voronin an die Bergleute im Fernsehen verblüffte uns durch seine Taktlosigkeit und „großrussische Frechheit“: „Wir hier in Moskau wissen gar nicht, was die da eigentlich von uns wollen!“ Der ohnehin pervertierte Menschenrechtsbegriff, den man in den Kabinetten hat, wird dort auch noch je nach Lage mal so und mal so gewendet. Eine solche Haltung rechnet mit dem Applaus der Spießbürger.

Haben Sie die vielleicht durch Ihre materiellen Forderungen verprellt?

Eigentlich ist das alles mit relativ geringem materiellen Aufwand zu verwirklichen. Und zwar in einer Woche. Unsere Forderungen sind sehr langsam herangereift. Die Arbeiter einer entfernteren Grube, zu der morgens und abends ein Zug mit einer Art Viehwagen fährt, haben zum Beispiel ordentliche Waggons gefordert, mit Sitzen, auf die man auch mal ein Kind setzen kann. Die Arbeit in dieser Grube ist sehr schwer, der Kohleabbau erfolgt nur mit Schlaghämmern. Und was hat man den Leuten geschickt? Alte, undichte Wagen! Es geht immer um Kleinigkeiten: Wir möchten zum Beispiel eine „Disziplinarordnung“ abschaffen - noch aus der guten alten Stalinzeit -, die uns verbietet, im Falle einer Entlassung vor Gericht zu gehen. Wir dürfen uns nur bei unseren Vorgesetzten „beschweren“. Das ist doch absurd.

Und wenn ein Arbeiter aus eigenem Antrieb das Unternehmen wechselt, verliert er die Lohnzuschläge für den hohen Norden.

Diese Regelungen haben alle das gleiche Ziel: den Menschen klein zu machen und seine Selbstachtung zu zerstören. Die Menschen sollen wie Leibeigene funktionieren, und man will über sie verfügen wie über Sachen. Man ist an seinen Arbeitsplatz gekettet. Wenn jemand z.B. für ein halbes Jahr in das alte Rußland übersiedeln will, um seiner pensionierten Mutter dort ein Häuschen zu bauen, verliert er schon alle „Nordansprüche“. Ja, schon nach einem Tag oder nach einer Stunde. Dabei sind die Arbeiter bei uns doch ziemlich „beständig“. Der Staat würde also bei einer positiven Entscheidung kaum Geld verlieren, und die Leute würden sich als Menschen fühlen. Aber genau das will man offenbar verhindern! Im Grunde dreht sich hier alles um die Psyche. Diese Bürokraten haben noch nicht begriffen, daß bei uns wirklich „neue Menschen“ aufgetaucht sind.

Und wie ist es nun mit den „Nordzuschlägen“?

Die wurden uns schon in der Chruschtschow-Zeit stark zusammengestrichen. Heute fordern wir, was uns vor über 20 Jahren gestohlen wurde. Wir verlangen ja nicht einmal die in der Zwischenzeit unterschlagenen Summen, sondern nur eine Angleichung an das Lohnniveau, das wir bei einer ununterbrochenen Entwicklung bis heute erreicht hätten. Es gab Gruben, wo 80 Prozent mehr Lohn gezahlt wurde und solche, wo die Leute sogar das Doppelte verdienten. Jetzt will man uns als Obergrenze Zuschläge von 60 Prozent zubilligen, weil angeblich keine Mittel da sind. Tatsächlich belügt und betrügt man uns. Geld ist da, es geht nur um seine Verteilung. Unter anderem deshalb gehen wir jetzt zu einem politischen Streik über.

Eine unserer Forderungen lautet: Einstellung der Finanzhilfe für die totalitären „Bruderregimes“. Als ob es nicht reicht, daß wir der Welt die Seuche des Marxismus -Leninismus beschert haben und damit diese ganzen Pol-Pots und Kim-Il-Sungs. Da kaufen wir zum Beispiel kubanischen Zucker für das Vierfache des Weltmarktpreises. Dieses Geld bekommen die Kubaner aus unseren Taschen und flippen unter ihrer schönen Sonne fast aus. Sollen sie doch selber sehen, wie sie einen ehrlichen Gewinn erarbeiten!

Innenpolitisch sieht es noch schlimmer aus. Nehmen wir zum Beispiel die gewaltige Radaranlage, die sie unter Verletzung des SALT-Abkommens bei Krasnojarsk errichtet haben. Die wurde nicht nur hinter dem Rücken der Amerikaner, sondern auch hinter unserem Rücken gebaut. Niemand hat die Bürger dort gefragt, ob sie da so einen Superteller aus 500 Hektar Eisenbeton herumstehen haben wollen. Dabei ist der Eisenbeton erster Klasse, aus dem hätte man für uns eine Menge hübscher Wohnungen bauen können. Und jetzt trägt man dieses „Tellerchen“ wieder ab, weil es zu nichts mehr nutze ist. Man könnte lachen, wenn das Ganze nichts gekostet hätte - tatsächlich hat es aber 550 Millionen Rubel gekostet, und das ist zum weinen. Ganze 300 Millionen würden nach unseren Berechnungen reichen, um Workuta wirtschaftlich auf die Füße zu stellen. Und wer ist jetzt bereit, für diese halbe Milliarde die Verantwortung zu übernehmen? Etwa halb so viel hat das Wasserkraftwerk bei Kursk gekostet - bis ihnen einfiel, daß ein Kraftwerk in einer solchen Berglage nicht effektiv ist. Für das Projekt der Umleitung der sibirischen Flüsse hat man außerdem mindestens sieben Millionen buchstäblich in der Erde vergraben.

Dieses Geld hätte man auch für Gewächshäuser ausgeben können, damit wir endlich mal Kirschen und Birnen zu essen bekommen. Wir fordern Rechenschaft für das mit unserem Schweiß erarbeitete Geld. Dieses Land kann es sich wahrhaftig nicht leisten, auch nur einen einzigen Rubel zu verschwenden. Wir Arbeiter sind es leid, nicht zu wissen, wen wir wofür mästen. Was wir aber wissen: Das von uns geforderte Geld ist vorhanden.

Und jetzt wollen Sie mit Ihrer Kohle auf den freien Markt?

Wir fördern die beste Kohle der Welt. Eine Tonne kostet auf dem internationalen Markt 45 Dollar, und ein Bergmann bekommt bei uns für ihre Förderung zwischen 30 und 40 Kopeken. Im Sommer hatten wir gefordert, 20 Prozent unserer Kohle selbst verkaufen zu dürfen. Vertraglich zugestanden hat man uns je nach Grube zwischen drei und fünf Prozent, vorausgesetzt, der Plan ist erfüllt. Daran ist in diesem Jahr natürlich nicht mehr zu denken. Aber auch an diesen geringen zugestandenen Prozenten fangen sie schon zu knabbern an. Das ist ja wirklich nicht viel, aber unsere Leute hätten sich über den Ertrag gefreut.

Nun erweist es sich, daß die staatliche Außenhandelsorganisation für Kohle 40 Prozent von diesem Betrag (also von den zugestandenen drei bis fünf Prozent, d.Red.) haben will. 20 Prozent kassiert die Komi-ASSR (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik, d.Red.) ein, wofür, weiß kein Mensch. Weitere 20 Prozent will die Organisation Workuta-Ugol (der Zusammenschluß der kohlefördernden Unternehmen in Workuta, d.Red.). Das heißt, unseren Leuten bleibt der Ertrag von einem Prozent ihrer Kohle in Devisen. Ist das etwa gerecht? Davon können wir uns gerade mal eine Schachtel Konfekt kaufen. Mit einem Wort: Man macht sich über uns lustig. Da sollen wir den Aufrufen zu mehr Leistung folgen, unter Bedingungen, bei denen man nur noch die Hände sinken lassen kann.

Warum gibt es politische Forderungen in dieser Form bisher nur bei Ihnen?

Im Donbass und Kusbass sind sie einfach noch nicht so weit. Sie fordern Schinken, Fleisch, Tee und Arbeitsmaterial. Und was ist, wenn ich den Tee getrunken und das Fleisch gegessen habe? Dann fange ich vielleicht an, über die Ursachen dieses merkwürdigen Verteilungssystems nachzudenken. Und wenn mir die Bürokraten gnädig drei oder vier Prozent mehr Lohn gewähren, wird die Inflation sie in einem Jahr wieder aufgefressen haben. Und dann sitzen wir da, wie die Kinder beim Dreck. Bei uns, in Workuta, macht sich eben auch die Straflagervergangenheit dieser Stadt bemerkbar: Da werden kritische Haltungen von den Großeltern an die Enkel weitergegeben. Schließlich hat auch Solschenizyn hier gesessen. Dann kamen die Neusiedler, die hier einen besseren Lebensstandard erreichen wollten. Workuta wurde zu einer Art Klein-Amerika. Es waren in der Regel unangepaßte, unternehmungslustige Leute, die es hierher zog. Das alles wirkt sich heute aus.

Die Dauerexistenz von Streikkomitees ist in dem neuen „Gesetz über die Lösung von Arbeitskonflikten“ nicht vorgesehen.

Wie Sie wissen, fordern wir auch, daß unsere Gesetzgebung den internationalen Verträgen und Gepflogenheiten angepaßt wird. Da gibt es die Konvention Nr.87 der ILO, die unsere Regierung 1957 unterzeichnet hat. Darin heißt es schwarz auf weiß, daß die Arbeiter das Recht haben, sich frei zu organisieren, und zwar in beliebiger Form, und daß die Gesetzgebung dieses Recht nicht beschneiden darf. Es läuft also darauf hinaus, daß unser Staat nach außen Pfötchen gibt und innen, als Gesetzgeber, marxistisch-leninistisch die Zähne fletscht.

Übrigens trifft das Gesetz auf unseren Fall auch nicht zu, weil es ausdrücklich Konflikte „zwischen Arbeitskollektiven und Unternehmen“ regelt. Wir haben jetzt aber keinen Konflikt mit unseren Unternehmen, sondern mit unserer Regierung, die ihren mit uns geschlossenen Vertrag nicht erfüllt. Dieses „Konfliktsubjekt“ wird vom Gesetz nicht berührt. Außerdem haben Gesetze nach unserer Verfassung keine rückwirkende Kraft. Der Vertrag mit der Regierung bestand aber vor dem Gesetz, und darin heißt es ausdrücklich: Der Streik wird nicht beendet, sondern ausgesetzt. Wir bleiben weiterhin zum Streik bereit und behalten uns vor, ihn jederzeit wiederaufzunehmen, wenn man uns an der Nase herumführt. Das hat die Regierung mit unterschrieben.

Jetzt ist eine Kommission der Staatsanwaltschaft angereist und hat jedem von uns Streikkomiteemitgliedern mit 1.000 Rubeln Strafe für den Fall gedroht, daß wir bis zum 13.November die Arbeit nicht wieder aufnehmen. Statt, wie es sich gehört, für die Einhaltung des Vertrages mit uns zu sorgen, machten sich die Angestellten des Ministerrates daran, eine besonders wertvolle Kohlesorte, K14, die wir sonst fördern, in anderen Teilen der UdSSR zu suchen. Sie fanden sie in der Stadt Anschera-Suschensk im Kusbass -Becken. Die Bergleute dort kamen dann dahinter und stellten die Auslieferung dieser Kohlesorte ein. Sie riefen uns an und sagten, daß sie zutiefst besorgt über ein solches Verhalten der Regierung seien, von der sie sich ohne ihr Wissen als Instrumente einer ökonomischen Blockade gegen uns benutzt sahen.

Und wo kommen die Streikbrecher in der Grube Zapoljarnaja her?

Dort fraß das Streikkomitee der Verwaltung schon immer aus der Hand. Zudem ist der Direktor mit allen Wassern gewaschen: ein Oberhalunke. In den siebziger Jahren hatte er den Spitznamen „Pinochet“, weil er sich seinen Arbeitern gegenüber unbeschreiblich grausam und nachtragend benahm. Dann entwickelte Konstantin Tschernenko seine letzte Kampagne: die Belebung der künstlerischen Laientätigkeit. „Pinochet“ nahm den Kampf um die Kultur auf und ließ Arbeiter, die bei ihm anheuern wollten, erst einmal vorsingen und vortanzen. Man stelle sich das einmal bei einem Kapitalisten vor! Als er die Perestroika witterte, „humanisierte“ er sich ganz erstaunlich: Jetzt geht er durch den Betrieb, grüßt, verteilt Küßchen und erkundigt sich nach dem Wohlergehen von Frau und Kindern. Im Streikkomitee hat er Vertraute sitzen, ausgesprochene Reaktionäre.

Insgesamt glaube ich, daß die Regierung den Dialog mit uns so spät aufgenommen hat, um uns zum Streik zu provozieren und um die Komitees dann anschließend mit Hilfe des neuen Gesetzes für ungesetzlich zu erklären. Diese Entwicklung war die ganze Zeit absehbar. Uns blutet das Herz wegen der ökonomischen Verluste, die der Streik verursacht. Den Bürokraten ist nur bang um ihre Sessel. Der Stadtsowjet von Workuta hat seinen Beschluß, die Streikkomitees als offizielle Vereinigungen anzuerkennen, bereits rückgängig gemacht, und man hat uns die Lohnzahlungen gestrichen. Bestimmt war da auch die Absicht im Spiel, uns bis zum 17.November auseinanderzujagen und dann nur noch mit den offiziellen Gewerkschaften zu sprechen. Mittlerweile hat die Grube Worgaschorskaja, die größte Grube der Welt, geschlossen für den Austritt aus dem offiziellen Gewerkschaftsverband gestimmt. Das ist ein historisches Ereignis. Für die sowjetischen Arbeiter nicht geringer als der Fall der Berliner Mauer.

Wollen Sie eine Gegengewerkschaft wie die „Solidarität“?

Auf jeden Fall eine Massenorganisation, denn die Streikkomitees können nur ein Anfang sein.

Interview: Barbara Kerneck