Ad-hoc-Umfrage in der Provinz

■ In Luckenwalde, 50 Kilometer südlich von Berlin, haben die Leute andere Probleme als die „Wiedervereinigung“ / Angst vor der Umarmung durch die Brüder und Schwestern

Luckenwalde im Bezirk Potsdam. Eines jener märkischen Städtchen, in denen um acht Uhr abends die Straßenlampen ausgeknipst werden: braunkohlegebeizte Fassaden, ein VEB Hutmoden, ein Kino Alhambra. „Hinterwalde“ nennen die Kids ihre Stadt, als quasimetropolitane „Randberliner“ dagegen fühlt man sich im Rathaus. Doch wie auch immer die jeweilige Befindlichkeit hier in der Provinz sein mag „Wiedervereinigung“ ist den LuckenwalderInnen „keen Thema“, so ergibt eine unrepräsentative Ad-hoc-Umfrage am Donnerstag.

Schließlich gibt es Wichtigeres zu bereden: „Im Büro haben sie sich heute nur darüber unterhalten, wie man den Kindern verheimlichen kann, daß auch sie die hundert Westmark bekommen. Über Wiedervereinigung spricht man nur bei euch drüben“, sagt Frau Riemer. Beim Wort „ihr da drüben“ zeigt sie reflexmäßig auf den Fernseher, als beschränke sich der Westen immer noch auf die 36er-Bildröhre.

Auf dem Luckenwalder „Boulevard“ wartet ein 82jähriger ehemaliger Ostpreuße auf den Bus. „Was? Da mach ich mir kein‘ Kopp drüber, da bin ich zu ungewiß. Nej, die Geldentwertung macht mir Sorge, das wird was Schlechtes. Hab‘ ich zweimal mitgemacht...“ Ein wenig weiter sitzen zwei junge Potsdamer in Pepper-and-Salt-Mänteln mit Gorbatschow -Plakette: „Wiedervereinigung? Wird nicht stattfinden. Natürlich mehr Zusammenarbeit, Wirtschaftshilfe und so, aber wir wollen die Eigenständigkeit beibehalten.“ Für zwei souveräne Deutschländer innerhalb der EG seien sie aber schon, sagen beide. „Das Thema ist dermaßen weit weg für die Leute, daß sie keinen Gedanken an diese hochpolitischen Dinge verschwenden“, meint auch der Luckenwalder Redakteur der 'Märkischen Volksstimme‘, Matthias Butsch.

Noch vor drei Wochen hing an den schwarzen Brettern einiger Produktionsgenossenschaften Luckenwaldes ein von der Stasi gefälschtes angebliches Flugblatt des Neuen Forums. Darin wurde die Forderung nach einem „Deutschland in den Grenzen von 1937“ aufgestellt - die „beste Möglichkeit, das Forum als Komplizin sozialismusfeindlicher Kräfte zu entlarven“, wie Forums-Sprecher und SED-Mitglied Wießner meint.

Doch nicht allein aus taktischen Gründen, sagt Wießner, habe die Opposition das Thema Wiedervereinigung bislang nicht auf die Tagesordnung gesetzt. „Es ist der SED in den vierzig Jahren zwar nicht gelungen, die deutsche Nation aus uns rauszuprügeln. Aber viele DDR-Bürger haben immer noch eine Art versteckten Ehrgeiz, etwas Eigenes gegenüber der BRD auf die Beine zu stellen, den Nachbarn in puncto Gerechtigkeit und Lebensqualität doch noch zu überholen.“ Es widerstrebe ihrem Stolz, sich einfach hinzugeben, also: aufzugeben.

„Ich glaube, die Menschen haben Angst vor der Umarmung durch den großen Bruder“, sagt auch der Pfarrer der Luckenwalder Stadtkirche. „Wir haben jetzt erst unsere eigene Sprache gefunden und die Fähigkeit, uns zu artikulieren. Da können wir uns doch jetzt nicht bevormunden und uns eine BRD-Debatte aufdrängen lassen.“ Er könne allerdings nicht sagen, was da noch alles an „Irrationalem“ in den Menschen schlummere und, sobald sich der Begrüßungsgeld-Taumel verflüchtigt hat, aufwachen könne. Bisher jedoch sei, und dies wohl nicht nur im märkischen Luckenwalde, die „deutsche Frage“ lediglich - eine bundesdeutsche Frage.

Alexander Smoltczyk