„Wiedervereinigung“ ist in der DDR (noch) kein Thema

Die gesamte Opposition will lieber eine neue DDR schaffen / Nach der großen Reiseeuphorie wächst aber die Angst, die neugeweckten Konsumerwartungen könnten zu einer schleichenden „Wiedervereinigung“ führen / Bärbel Bohleys Kritik an den „kopflosen Menschen“ ist bei vielen auf Unverständnis gestoßen  ■  Von Matthias Geis

Noch ist die „Wiedervereinigung“ kein Thema in der DDR. Bei aller erzwungenen Reformbereitschaft ist die Betonung der Souveränität und Eigenstaatlichkeit der DDR die Konstante der SED-Politik. Und die Opposition zieht hier mit der Partei an einem Strang. Eine kapitalistische DDR verliere ihre Existenzberechtigung - so lautete in den letzten Tagen der Stagnation das defensive Argument des SED -Chefideologen Professor Otto Reinhold. Heute läßt es sich auch umgekehrt lesen: Die Eigenstaatlichkeit der DDR ist die Grundvoraussetzung für das demokratisch-sozialistische Experiment, das mit dem Aufbruch der letzten Wochen möglich geworden scheint.

Doch über das, was die Bevölkerung über die deutschen Perspektiven denkt, wird spätestens seit dem letzten Wochenende innerhalb der Opposition halb hoffnungsvoll, halb beklommen spekuliert. Die Euphorie, mit der die Menschen ihre buchstäblich über Nacht gewonnene Reisefreiheit wahrgenommen haben, stimmt diejenigen nachdenklich, die die Chance eines neuen DDR-Sozialismus gekommen sahen.

Wohlstandsgefälle

Führt die friedliche Revolution für eine demokratische DDR am Ende doch in die Arme des ökonomisch übermächtigen anderen deutschen Staates? Kann die noch immer vage Perspektive eines „Sozialismus, der seinen Namen verdient“, die Frustrationen kompensieren, die das Wohlstandsgefälle den westreisenden BürgerInnen auf absehbare Zeit bescheren wird? Werden am Ende doch die nationalen Bindungen so vitalisiert und die Konsumerwartungen so sehr auf westliche Standards geschraubt, daß die Gesellschaft das Interesse an einer eigenständigen DDR verliert?

Noch wird innerhalb der Opposition die Wiedervereinigungsdrohung eher hinter vorgehaltener Hand thematisiert. Doch bei den Bedenken, die die neugewonnene Freiheit - ironischerweise bei der Opposition, nicht der Partei - ausgelöst hat, fungiert die Annexion durch die Bundesrepublik als negativer Fixpunkt. „Polnische Verhältnisse“ bei der Sanierung des ökonomischen Systems das halten alle für sicher - würden die noch latente Einheitsperspektive unabweisbar werden lassen.

Auf diesem Hintergrund werden die düsteren Warnungen verständlich, mit denen die Opposition Anfang dieser Woche die Reiseeuphorie der DDR-BürgerInnen kontrastiert hat. Bärbel Bohley erklärte in einer ersten Stellungnahme die massenhaft in den Westen strömenden Menschen für kopflos, die Regierung für endgültig diskreditiert. Die harsche Reaktion auf die Öffnung der Grenzen traf durchaus einen Aspekt der Stimmungslage - auch wenn kein anderer Vertreter der Opposition die Vorbehalte derart drastisch pointierte. Pfarrer Friedrich Schorlemer vom „Demokratischen Aufbruch“ beispielsweise bezeichnete es als „unanständig, an der Reisefreiheit herumzukritteln“. Man müsse dazu „ja sagen es ist schließlich etwas Großartiges.“ Aber auch Schorlemer hat Angst vor den „furchtbaren Tönen“, die von der bundesrepublikanischen Rechten herüberwehen: „Deren Tenor ist: 'Nur ihr braucht die Reform, und wir nicht.'“

Bohley wird korrigiert

Einen paradoxen Zug hatte Bohleys Schelte zweifellos; immerhin hatte die SED mit ihrem Überraschungscoup eine der ältesten Forderungen der Opposition erfüllt und damit zugleich eine wesentliche Ursache für den Massenexodus beseitigt. In einer nachgeschobenen Stellungnahme versuchte die Initiativgruppe des Neuen Forums denn auch, die für viele unverständliche Reaktion abzufedern und auch die emotionale Seite des Ereignisses zu würdigen: „Auf diesen Tag haben wir fast dreißig Jahre gewartet! Es ist ein Festtag für uns alle!“ Doch das Gefühl der Bedrohung scheint auch durch diese Stellungsnahme: Die offenen Grenzen würden „das politische Chaos und die desolate Wirtschaftslage kraß zutage bringen“. Prognostiziert wird die Jagd nach der D -Mark als künftiger Leitwährung für Dienstleistungen und Mangelwaren, der Ausverkauf „unserer Werte und Güter“. „Wir werden“, so heißt es in der Erklärung schließlich, „für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.“

In der jetzt auf neue Weise beginnenden deutsch-deutschen Systemkonkurrenz wird die DDR-Opposition auf absehbare Zeit darauf angewiesen bleiben, der Attraktivität des Westens ideelle Entwicklungschancen und die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft entgegenzusetzen. Doch angesichts des Identitätsvakuums, das die 40jährige Einparteienherrschaft hinterlassen hat, finden sich kaum Ansatzpunkte für ein DDR-spezifisches Selbstbewußtsein, das als Resistenzkraft gegen Einheitsvisionen wirken könnte. Der gsellschaftliche Rückhalt von Leuten wie Schorlemer, der die „sozialistisch-demokratische Republik inklusive konsequentem Antifaschismus“ fordert, tatsächlich ist, bleibt offen.

Zweifelhaft bleibt auch, ob die Trotzreaktion, mit der viele DDR-BürgerInnen auf westdeutsche Bevormundung und Einverleibungsträume reagieren, auf Dauer der Wohlstandschance standhalten kann. DDR-Oppositionelle machen in diesen Tagen den vehementen Aufbruch und die Politisierung der Bevölkerung als Ansatzpunkt einer neuen Identität geltend.

An dieses Selbstbewußtsein des Aufbruchs appelliert auch das Neue Forum, wenn es seine Adressaten als „die Helden einer politischen Revolution“ anspricht. Doch hinter der beschwörenden Formulierung schimmert die Befürchtung durch, der politische Aufbruch könnte allzuschnell zugunsten der individuellen Konsumoption versiegen.

In der Tat bleibt die Bedeutung der jüngsten Ereignisse als identitätsstiftendes Moment schwer einzuschätzen. Zwar wurde auf den großen Demonstrationen der letzten Wochen niemals ein vereinigtes Deutschland propagiert. Doch in die schier endlosen Warteschlangen vor den Begrüßungsgeldschaltern haben sich in den vergangenen Tagen auch diejenigen eingereiht, die im eigenen Land gerade die alte Bittstellerrolle abgestreift haben.