Bonn läßt das rot-grüne Berlin im Stich

Berlins Finanzsenator Meisner blitzte in Bonn ab / West-Berlin muß völlig neu gedacht und geplant werden / Die rot-grüne Koalitionsvereinbarung stehen in mehreren Bereichen zur Disposition  ■  Von Brigitte Fehrle

Berlin (taz) - Mit berechtigten Forderungen klopfte der Berliner Finanzsenator Meisner am Donnerstag beim Bonner Finanzminister an. Hilfe für die Stadt wollte er, die mit 23.000 Übersiedlern, die in Lager wohnen, und mehr als 2 Mio. Besuchern an jedem Wochenende, am Rande ihrer Kräfte ist. 372 Millionen mehr wünschte sich der Sozialdemokrat Meisner. Doch Theo Waigel ließ ihn wie einen ungelegenen Bittsteller abblitzen.

Dabei kommen auf die Stadt - neben dem aktuellen Ansturm von mehreren Millionen Besuchern aus Ost und West an den Wochenenden riesige Aufgaben zu. Über Nacht ist West-Berlin, die große Stadt, zur Großstadt geworden. Vorbei ist die Zeit der Stadtpläne, in denen Ost-Berlin nicht vorkommt. In der Stadt beginnt fieberhaft die neue Planung. Der Koalitionsverhandler der Alternativen Liste, Christian Ströbele, hat in der letzten Woche große Teile des Koalitionsabkommens für hinfällig erklärt, die SPD-Fraktion zieht sich am Wochenende zur Klausurtagung zurück, die CDU -Opposition will eine neues Stadtprogramm vorlegen und in allen Verwaltungen werden alte Pläne über den Haufen geworfen.

Stichwort Verkehr: Wer sich noch an die Zeiten vor dem Mauerbau oder gar vor dem Krieg erinnert, schwärmt vom Berliner Verkehrssystem. Die S-Bahn fuhr in einem kompletten Ring rund um die Stadt. Im „fliegenden Hamburger“ brauste man in knapp drei Stunden von Berlin in die Hansestadt. Heute plötzlich scheinen diese Zeiten wieder greifbar nahe. Der Regierende Bürgermeister hat bereits die Wiedereröffnung des S-Bahn-Ringes gefordert. Die „Geisterbahnhöfe“ des U -Bahnnetzes sollen alle zügig wiedereröffnet werden. Auch die Verhandlungen mit der DDR über die Bahnstrecke Berlin -Hannover, die sich seit Jahren hinschleppen, sollen jetzt endlich zum Abschluß gebracht werden.

Doch schon blühen auch die kühnen Autofahrerträume wieder. Berlins Bausenator hat sich in der letzten Woche in völliger Verkennung seiner Kompetenzen öffentlich den weiteren Ausbau der Stadtautobahn gewünscht. Inmitten dieser konservativen Großstadtutopie nimmt sich die jetzt wiederholte Forderung der Alternativen Liste nach der autofreien Stadt ganz wohltuend aus. Berlin hat in dieser „Stunde Null“ der Verkehrsplanung die Chance modellhaft in ein brauchbares Nahverkehrssystem zu investieren.

Beispiel Wohnungsbau und Flächen: Wenn es nach dem CDU -Fraktionsvorsitzenden Eberhard Diepgen geht, ist schon klar, was aus dem Brachstreifen entlang der Mauer wird. In diesem Herzstück der Stadt, so wünscht er sich, mögen sich die großen Firmen der Welt ansiedeln und Berlin zu einer Metropole nach seinem Geschmack machen. Doch Gedanken über die Gebiete auf der Westseite der Mauer macht sich der Berliner Senat auch. Einer der (wieder) blinden Flecken ist der Potsdamer Platz. Bis vor vier Wochen Stadtrandgebiet und einbezogen in die Planung für die Bundesgartenschau 1995, wird dieser einst belebteste Platz Europas wieder als Ost -West-Treffpunkt gedacht. Der Regierende Bürgermeister favorisiert dort ein Handelszentrum. West-Berlin wird keine zwei Millionen Stadt bleiben. Schon jetzt ist der Wohnraum mehr als knapp. Die mutige Prognose des Senats, in der jetzigen Legislaturperiode 35.000 Wohnungen bauen zu wollen, ist vom Bedarf überholt. Jetzt wird unkonventionell gedacht. Warum, so fragt man, soll es nicht möglich sein, im Ostteil der Stadt zu wohnen und im Westen zu arbeiten? Vor dem Mauerbau gab es Tausende von Grenzgängern.

Stichwort Umweltschutz: Schon regt sich in Berlin der Unmut der Ökogruppen über den blauen Dunst der Zweitakter. Die Trabis, die nach bundesdeutscher Abgasnorm eigentlich gar nicht fahren dürften, sind im Berliner Straßenbild bereits alltäglich geworden. Die Luft im Westen wird darob nicht besser. Bereits vor zwei Wochen hat die Umweltsenatorin Verhandlungen mit Ost-Berlin über eine gemeinsame Smog -Verordnung aufgenommen. West-Berlin soll dem Osten Meßstationen liefern, Smog-Alarm soll dann grenzübergreifend ausgerufen werden. Doch ein anderes Umweltproblem wird dem Berliner Senat viel mehr zu schaffen machen: der Müll. Wenn nämlich die Umweltgruppen in der DDR anfangen werden, die Mülldeponien zu blockieren, wird West-Berlin auf den 1,4 Mio Tonnen Haus- und Sondermüll, der derzeit jedes Jahr nach drüben exportiert wird, sitzenbleiben.

Stichwort Freizeit: Der Regierende Bürgermeister hat die West-Berliner in der letzten Woche zum „Gegenbesuch“ aufgefordert. „Fahren Sie rüber“, sagte er und weiß auch, daß es noch immer bürokratische Hemmnisse gibt. Das Visum ist nötig und bei jedem Grenzübertritt zahlt man 25 DM Zwangsumtausch. Wenn die Westberliner die Öffnung der Grenzen und die Probleme, die sich daraus für die Stadt ergeben, gelassen ertragen sollen, müssen auch sie Vorteile haben. Das Umland muß erschlossen werden. Die Wünsche nach einer „Datsche“ am Müggelsee werden derzeit an jedem Westberliner Kneipentisch laut.