Gedämpfter Optimismus

■ DDR-Presse im Wandel: Freier Journalismus muß nicht nur erkämpft, sondern auch erlernt werden

Wo Stühle wackeln, wird die Fallsucht zur chronischen Beschwerde. Diesmal erwischte es Rudi Röhrer, den langjährigen Chefredakteur der 'Leipziger Volkszeitung‘. Absturz auf der ersten Seite. Der Aufmacher auf Seite 1 der LVZ hielt sich nicht lange mit dem demontierten Chef auf, in zwei lapidaren Sätzen meldete das Blatt, die SED -Bezirksleitung habe beschlossen, den Chefredakteur „von dieser Funktion zu entbinden.“ Das war alles. Daß in dem SED -Parteiorgan eine Palastrevolution ausgebrochen war, wurde den Lesern vorenthalten. Nichts von dem Vertrauensverlust Röhrers gegenüber seinen Redakteuren, nichts von der Unzufriedenheit der Mitarbeiter, nichts von der offenen Konfrontation, als die Redaktion in der vergangenen Woche den Rücktritt ihres Chefs verlangte und der SED -Bezirksleitung einen Nachfolger ihrer Wahl vorschlug.

Genugtuung über den Sturz eines Betonkopfes, der im entscheidenden Moment aus der Kurve zur Wende getragen wurde, mag bei den Journalisten der anderen Blätter in Leipzig nicht aufkommen. Zwar hat sich die Presselandschaft in den letzten Wochen rasant gewandelt, doch die Öffnung ist das Werk einzelner, mutiger Redakteure, die endlich so schreiben, wie sie schon immer schreiben wollten. Eine grundlegende Umstrukturierung der Parteipresse ist nicht in Sicht, wendefreudige Funktionäre, die erste Gedanken in diese Richtung verschwenden, sind schon abgelöst, bevor ihre Erklärung abgedruckt sind. Auch Günter Schabowski, dessen Vorschläge zur Reform des Pressewesens am weitesten gingen, weilt längst unter den Ehemaligen.

Armin Hopfs Büro strahlt den Charme der fünfziger Jahre aus. Ein Wohnzimmerschrank, mit Resopalfurnier, ein Konferenztisch und vor Kopf der Schreibtisch des Chefredakteurs. Sein Posten beim 'Sächsischen Tageblatt‘ ist nicht gefährdet, weil er die Zeichen der Protestbewegung rechtzeitig erkannte und schon Ende September leise Kritik wagte. Unter den neuen Bedingungen sieht er eine gute Ausgangsposition für seine Zeitung, denn die mutige Berichterstattung hat dem kleinen Blatt mit einer Auflage von nur 68.150 Exemplaren bei den mißtrauischen Lesern viel Respekt eingebracht. 500 Anmeldungen haben sich auf der Warteliste für eine Abonnement gestaut, die bescheidenen 3.000 Exemplare für den Kioskverkauf sind frühmorgens sofort weg.

„Unsere Auflage würde wahrscheinlich vierstellig hochschnellen, wenn wir keinen Sperrvermerk hätten“, sagt Armin Hopf etwas verbittert darüber, daß das sozialistische Mediensystem den kleineren Zeitungen der Blockparteien wenig Spielraum läßt. Je offener und kritischer die Tageszeitungen berichten, um so einfallsreicher werden die Leser, wenn sie an ihre Frühstückslektüre gelangen wollen. Der noch kleinere Mitkonkurrent in Leipzig, die 'Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten‘, meldete, welche kuriosen Folgen die beschränkte Auflage hat. „Mit der zurechtgebogenen Zuckerzange“ seien Langfinger in den Vororten unterwegs, um die begehrten Objekte aus dem Briefkasten zu fischen.

Das 'Sächsische Tageblatt‘ - eine Regionalzeitung der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD) - muß mit der limitierten Auflage zurechtkommen; nach wie vor ist die Redaktion an die Weisungen gebunden, die vom Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR kommen und über die Pressestelle der LDPD an die Redaktion weitergegeben werden. In den letzten Wochen sind diese Anweisungen, die mit konkreten Angaben über die Plazierung der Artikel versehen waren, ausgeblieben, „weil offensichtlich auch der Dümmste gemerkt hat, daß eine Zeitung der anderen wie ein Ei glich“. Trotzdem ist Armin Hopf mit der undurchsichtigen Situation unzufrieden, er fordert die „volle Eigenverantwortlichkeit der Redaktion“. Es könne auch nicht angehen, daß die SED -Blätter weiterhin Wettbewerbsvorteile - späterer Redaktionsschluß, höhere Auflage - genießen dürfen.

Der Maulkorb ist gefallen, deshalb bricht einiges von dem heraus, das bisher nur im stillen gedacht wurde. Viele Redakteure wollen sich nicht mehr bevormunden lassen, vor allem nicht von Kollegen, die urplötzlich mit Bravour eine Kehrtwende hingelegt haben, obwohl sie jahrelang voller Opportunismus im Sinne der SED funktionierten. „Wir wollen unseren Chefredakteur selbst wählen. Wenn schon nicht der Markt zur Konkurrenzfähigkeit zwingt, dann müssen wir wenigstens über die Position entscheiden können“, sagen die Redakteure beim 'Sächsischen Tageblatt‘ und schließen dabei die Frage nach ihrem eigenen Chefredakteur nicht aus. Schließlich habe er die Anweisungen von oben „an uns weitergegeben, und wir mußten sie ausführen, auch wenn er sie mit einem Witzchen kommentiert hat“.

Freier Journalismus will gelernt sein. Das hat die 'Leipziger Volkszeitung‘ spüren müssen, als sie in den Tagen der Demonstrationen auf ihr Informationsmonopol setzte. Während wilde Gerüchte von einem bevorstehenden Gespräch zwischen dem Neuen Forum und dem Leipziger Oberbürgermeister kursierten, ging der Journalist der LVZ beruhigt nach Hause, weil ihm der Pressesprecher des Rates versichert hatte, es gäbe nach dem Treffen keine offizielle Erklärung aus dem Rathaus. Die anderen Zeitungen blieben und konnten der LVZ am nächsten Morgen einen Aufmacher vorsetzen. Veränderte Bedingungen fordern andere Formen. Die LVZ wurde von den Ereignissen überrollt. Bisher hatte sie brav die Litanei der SED nachgebetet, jetzt soll sie ihr eigenes Profil finden: „Die Situation zwingt uns dazu, einen eigenen Standpunkt zu finden und bestimmte politische Ereignisse selbst zu kommentieren“, gibt Wilfried Zaspel, noch stellvertretender Chefredakteur der LVZ, zu und kann nicht verbergen, wie schwer ihm das fällt.

Ein neuer Journalismus braucht neue Journalisten. Die Aufgabe der Redakteure bestand bisher darin, 'adn'-Material zu redigieren, Meldungen der Partei-Pressestellen zu bearbeiten oder Erklärungen mitzustenografieren. Jetzt sollen sie plötzlich anders arbeiten, telefonieren, recherchieren, sich die Nachricht erkämpfen und nicht mehr darauf warten, daß die Information ins Haus kommt. Die jungen Journalisten haben auf diesen Augenblick gewartet, die älteren fürchten sie. Ein Redakteur aus Halle beschreibt, wie er mit zwei anderen Kollegen gegen 30 Vertreter der alten Garde kämpfen muß, die nichts verändern wollen, da sie Angst vor dem Arbeiten unter Konkurrenz haben.

Die Widerstände gegen eine Reform des Mediensystems sind so groß, daß auch diejenigen skeptisch bleiben, die täglich brisante Themen aufgreifen, Mißstände anprangern und die Spalten der Zeitungen für Diskussionen öffnen. „Im Moment herrscht ein anarchischer Zustand. Jeder macht, was er will, es kommt auf die Courage des einzelnen an.“ Wer Mut hat, muß immer noch mit Verfolgung rechnen. Seinen Namen möchte der Redakteur nicht nennen, das Telefon seines Kollegen wird abgehört, Gerüchte wollen nicht verstummen, daß der Abteilungsleiter der Redaktion der Staatssicherheit zuarbeitet. Solange sich nichts Grundlegendes ändert, wird diese Atmosphäre aus Mißtrauen, Angst und Vorsicht bestehen bleiben. Nach Ansicht des Redakteurs müßten drei Bedingungen erfüllt werden, damit sich die Knebelung der DDR-Presse lockert: Die Zeitungen müßten ökonomisch unabhängig werden, sie dürften nicht mehr den Weisungen der SED-Bezirksleitung unterliegen und dem staatliche Nachrichtenagentur 'adn‘ müßte das Monopol, vorkommentierte Meldungen zu verbreiten, genommen werden.

Die Oppositionsgruppen warten nicht auf ein neues Mediengesetz. Zwar hat das Neue Forum Leipzig ganz formell die Lizenz für eine Zeitung beantragt, aber inzwischen verteilen Kontaktleute schon die fünfte Nummer eines Informationsblättchens, das auf abenteuerlichen Wegen an die Öffentlichkeit kommt. Da die offiziellen Druckereien Aufträge nur annehmen, wenn ein Papier der Druckgenehmigungsstelle im Rathaus vorliegt, werden die illegalen Flugblätter, Schriften und Erklärungen privat kopiert. Auf Matrizendruckern und auf Fotokopierern, die in den Betrieben heimlich zweckentfremdet werden, wird vervielfältigt, jeder der ein Stapel mitnimmt, verpflichtet sich, weitere Abzüge zu machen - und sei es handschriftlich. 'Umweltblätter‘, 'Grenzfall‘ und 'Kontext‘ sind die bekannten Organe der Gegenöffentlichkeit, aber es gibt auch Ansätze in der Provinz: Die 'Leidplanke‘ aus Knau kalauert in der ersten Ausgabe: „Wieso sehen die DDR-Bürger so müde aus? Weil es 40 Jahre bergauf ging.“ Doch die lockere Kommentierung des gesellschaftlichen Wandels bleibt im Moment die Ausnahme. Auf den Redaktionstreffen müssen die Zeitungsmacher mit Erklärungen, Manifesten und Dokumentationen kämpfen. Oft ist das Blatt schon am Tag des Erscheinens hoffnungslos veraltet, überrollt von den politischen Ereignissen, die auf der Straße stattfinden. „Es wird weniger gelesen, als zu vermuten ist“, erklärt Michael Turek vom Neuen Forum in Leipzig-Ost. Seine Bibliothek enthält so ziemlich alle Publikationen, die in der Off-Szene des Landes erscheinen.

Zum Schutz vor eventuellen Hausdurchsuchungen hat der Pfarrer seine Sammlung als Archiv „Zeitdokumente“ getarnt. Auf den Pappdeckeln der Zeitungseinbände und Bücher kleben kleine Zettel, die auf die rein dokumentarische Funktion hinweisen und den Betreiber der Bibliothek entlasten sollen: „Dieses in der BRD erschienene Buch dokumentiert auf streitbare Weise das aktuelle Zeitgeschehen in unserem Lande. Sowohl über den Inhalt als auch über die künstlerische Qualität wird sich der Leser sein eigenes Urteil bilden.“

Christof Boy