Der Generalstreik liegt in der Luft

Nach dem Tod des Studenten Martin Smid ist in der CSSR der Kulminationspunkt erreicht / Alle - politische Führung, Opposition, Arbeiter und Kirchen - im Zugzwang  ■ I N T E R V I E W

Der Historiker Dr. Vilem Precan ist Direktor des Dokumentationszentrums zur Förderung der unabhängigen tschechoslowakischen Literatur in Scheinfeld-Schwarzenberg. Precan war bis 1970 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, dann wurde er für sechs Jahre Heizer in einem Krankenhaus. 1976 durfte er in die BRD ausreisen.

taz: Am Freitag während der Demonstration wurde der Student Martin Smid brutal von der Polizei zu Tode geprügelt. Wird das Entsetzen darüber die tschechoslowakische Gesellschaft so aufrütteln, daß jetzt das Regime in ernsthafte Schwierigkeiten gerät?

Dr.Vilem Precan: Dieser Tod wühlt die gesamte Bevölkerung auf. Es ist natürlich immer noch ein Unterschied zwischen dem Befehl auf dem Platz des Himmlischen Friedens und den Ereignissen in Prag. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Offizier den Befehl zur Tötung von Demonstranten gegeben hat.

Was wird jetzt passieren? Die TschechInnen können doch nicht wieder zur Tagesordnung übergehen.

Alle sind jetzt unter Zugzwang geraten. Zuallererst die Führung der Partei. Es muß sich erweisen in diesen Tagen, heute, morgen, ob es jemanden in der politischen Führung gibt, der bereit ist, das Steuer herumzureißen. Auch die ganze Opposition in der CSSR ist unter Zugzwang geraten. Alexander Dubcek, der ja in den letzten Monaten einige Zeichen setzte, muß jetzt handeln. Druck besteht weiterhin für die Kirchen, für die Arbeiter, für alle, die imstande sind, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Jetzt ist sogar die Sowjetunion, also Gorbatschow, unter Zugzwang. Es gibt Anzeichen für einen lawinenartigen Ruck in der Gesellschaft. Schon haben die Studenten zum Streik aufgerufen, Theaterleute werden nicht mehr spielen, sondern ihre Räume zur Verfügung stellen für die Diskussionen über die Situation im Land. Generalstreik liegt in der Luft. Die jungen Leute werden das Begräbnis von Martin Smid zu einer Manifestation machen.

Jetzt ist der Kulminationspunkt also erreicht, die Geduld ist zu Ende...

Ja. Es war schon in den letzten Tagen zu beobachten, daß es einen höheren Grad des Differenzierungsprozesses in der KPC gibt. Die Zentrale der KPC ist äußerst nervös und versuchte, die gesamte Mitgliedschaft einzuschüchtern, und zwar mit der Horrorvision einer blutigen Abrechnung durch das Volk im Falle eines demokratischen Umsturzes. Damit sind aber selbst die Mitglieder in der KPC nicht mehr zum Schulterschluß zu bewegen.

Welche Rolle spielen die Ereignisse in der DDR?

Selbstverständlich tragen die Umstände in der ganzen Region dazu bei. Das ist ansteckend und ermutigt. Die Gründe für die kommende demokratische Umwälzung in der CSSR sind aber hausgemacht. Mit kleinen Schritten läßt sich die Lage nicht mehr lösen. Ich glaube, in den nächsten Tagen wird sich etwas ereignen müssen. Und hoffe immer noch, daß es jemanden gibt in der Führung, der zum Handeln fähig ist.

Wer könnte das denn sein?

(lacht) Wer weiß das? Herr Adamec hat immer gesagt, zur Demission bereit zu sein. Wer hätte gedacht, daß Krenz, bei allen Abstrichen, diese Rolle in der DDR spielen könnte. In Bulgarien ist ein Mladenow aufgetaucht. Die Schwierigkeit in der CSSR ist aber, daß die Fronten seit 1968 so festgefahren sind. Die ganze Führung ist noch aus der Breschnew-Zeit.

Interview: Erich Rathfelder