CSSR: Die Zeichen stehen auf Sturm

■ Nachdem am Freitag ein Student von Polizei zu Tode geprügelt wurde, geht eine Welle von Demonstrationen und Diskussionen über das Land / Charta 77 verlangt die Absetzung der Verantwortlichen für den Polizeieinsatz / Auch Dubcek vorübergehend festgenommen

Berlin (ap/afp/taz) - Auch in der CSSR stehen jetzt die Zeichen auf Sturm. Nachdem am Freitag abend der Mathematikstudent Martin Smid von Sicherheitskräften zu Tode geprügelt wurde, mehren sich nun in Prag die Anzeichen für massiven Widerstand gegen Regierung und Partei.

Bereits am Samstag protestierten 2.000 Studenten gegen den Polizeieinsatz. Sie appellierten an die Sicherheitskräfte, keine Massaker mehr zu begehen. Einige Kundgebungsteilnehmer sprachen sogar von vier Menschen, die am Freitag getötet worden sein sollen, darunter zwei Frauen. Die Studenten riefen zu einem zweistündigen Streik am 27. November auf.

Am Samstag abend sagten die Schauspieler von sechs Theatern die Vorstellungen ab, um mit der Bevölkerung über die Lage zu diskutieren. In einer Erklärung verlangte Charta 77 das „sofortige Abtreten der in Partei- und Staatsführung für den brutalen Einsatz gegen Bürger Verantwortlichen“. Die Bürgerrechtsorganisation verglich das Vorgehen der Polizei mit den Greueln der Nazis vor 50 Jahren in Prag.

Als sich am Freitag abend eine genehmigte Demonstration des offiziellen Studentenbundes, die der vor 50 Jahren von den deutschen Besatzern ermordeten neun Studenten gedenken wollte, zu einer großen Kundgebung für die Demokratisierung des Landes und gegen die kommunistische Führung entwickelte, griffen die Sicherheitskräfte ein.

Die mehr als 30.000 Demonstranten wurden von der Polizei mit Tränengas, Schlagstöcken und Hunden angegriffen, als sie sich dem Wenzelsplatz näherten. Augenzeugenberichten zufolge wurden zahlreiche Personen verletzt.

Zahlreiche Demonstranten wurden von den Sicherheitskräften in Toreinfahrten getrieben und dort blutig geschlagen. Die Polizei setzte Tränengas ein, Panzerfahrzeuge waren um den Ort des Geschehens zusammengezogen. Zum ersten Mal wurden auch Fallschirmjäger der Armee zur Unterdrückung der Demonstration eingesetzt.

Nach Augenzeugenberichten war Smid von den Bereitschaftspolizisten in der Nähe des Wenzelsplatzes auf Kopf und Schulter geschlagen worden. Die Polizisten hätten auch weitergeprügelt, nachdem er zu Boden gegangen sei. Den Eltern des jungen Mannes sei am Samstag mitgeteilt worden, ihr Sohn sei bei einem „Unfall“ ums Leben gekommen, berichtete die amerikanische Zeitung 'Washington Post‘.

Unter den 143 Festgenommenen vom Freitag abend war auch die Leitfigur des Prager Frühlings von 1968, Alexander Dubcek. Er wurde festgenommen, als er am Rande der Demonstration mit Studenten diskutierte. Dubcek wurde nach dreistündigem Verhör wieder freigelassen.

70 andere Demonstranten befanden sich am Sonntag immer noch in Polizeigewahrsam. 21 Personen wurden nach Entrichtung eines Bußgeldes wieder freigelassen.

In ihrem Appell forderte Charta 77 den sofortigen Rücktritt der für den Polizeieinsatz Verantwortlichen. Während sich praktisch alle übrigen sozialistischen Staaten auf dem Wege zu Reformen befänden, entfessele die Regierung der CSSR einen Krieg gegen die eigenen Bürger. Die Opposition fordert sofortige Gespräche über Reformen, an denen sich die Regierung sowie alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligen sollten.

Auch die unabhängige „Bewegung für bürgerliche Freiheit“ forderte den Rücktritt der für den Polizeieinsatz verantwortlichen Politiker und verlangte die Schaffung einer unabhängigen Untersuchungskommission.

Unbeeindruckt von den Protesten veröffentlichte das tschechosloswakische Innenministerium am Samstagabend ein Kommunique, in dem der Tod eines oderer mehrerer De Fortsetzung auf Seite 2

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monstranten nicht bestätigt wurde. 17 Personen seien verletzt, 143 festgenommen worden, hieß es. Gegen neun Personen sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

Radio Prag hatte noch am Samstag die Bildungsministerin Jana Synkova mit den Worten zitiert, Martin Smid sei am Leben und wohlauf. „Wir haben mit ihm gesprochen. Er wird sein Studium fortsetzen.“

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