Ihr über uns: „zum Kotzen, verlogen, von Unkenntnis strotzend“

■ DDR-Opposition in der Zwickmühle: DDR-BürgerInnen wollen VW statt 3. Weg / Gespräch mit dem Ostberliner Wissenschaftler Wolfgang Hübner (Demokratie jetzt)

Wolfgang Hübner arbeitet in Berlin (Ost) erstens als Wissenschaftler und zweitens in der oppositionellen Gruppe „Demokratie jetzt“. Am Tag, als die Mauer aufging, kam er für 10 Tage nach Bremen. Von hier verfolgte er nicht nur in die Entwicklung in der DDR sondern auch die Diskussionen darüber in der BRD. Die taz unterhielt ich mit ihm über seine Eindrücke.

taz: Vom Bundestag bis zum Stammtisch, von Helmut Kohl bis Joschka Fischer - alles fragt sich in der BRD plözlich: Wie halten wir's mit der DDR. Wie haben Sie diese Debatten in der letzten Woche erlebt?

Wolfgang Hübner: Ich find's oft zum Kotzen. Verlogen, übertrieben und von Unkenntnis der Verhältnisse in deer DDR strotzend. Im BRD-Fernsehen berichten Sportreporter: „Es siegte Herr Sowieso aus der DDR. Der beste Deusche belegte Platz 14“. Und mit genau dieser Mentalität wird anschließend über Wiedervereinigung geredet. Wenn Herr Kohl von Woche zu Woche neue Bedingungen für Hilfsprogramme formuliert, dann ist das einfach unglaubwürdig. Da finde ich es schon besser, wenn jemand wie Momper von „Wiedersehen“ spricht und vom „Volk der DDR“. Hier hat das Buhrufe gegeben. Mir hat's gefallen.

Die Visionen hier langen von Wiedervereinigung bis zu getrennten Zimmern im gemeinsamen „europäischen Haus“. Ist sowas Thema in der DDR?

Absolut nicht. Wir haben wichtigeres zu tun. Wir müssen erst mal ein Schulsystem schaffen, in dem unsere Kinder nicht zu Schizophrenen heranwachsen, sondern Menschen werden. Wir müssen uns ums Wahlrecht kümmern, wir müssen uns um unsere Gewerkschaften kümmern, wir müssen uns um unsere Medien kümmern. Übrigens: Wann ist ein einiges Deutschland eigentlich überhaupt jemals ein Thema gewesen? Doch nur 1848! In der Geschichte der DDR ist Wiedervereinigung noch nie ein Thema gewesen, höchstens bei Ulbricht in den 50er Jahren. Über Wiedervereingung hat man doch ausschließlich in der BRD geredet - und dann vor allem unter Konservativen. Hier war das Gerede! Und die Taten? Die folgten jetzt in der DDR, von uns wird die Mauer gesprengt. Und jetzt stehen in der Bundesrepublik plötzlich alle da und klappern ratlos mit den Zähnen. Am 4. 11., bei der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz, gab's jedenfalls kein einziges Transparent mit der Losung „Wiedervereinigung“.

Warum eigentlich nicht?

Honecker hat einmal gesagt, die DDR-Bevölkerung sei die bestinformierte in ganz Europa. Da hat er recht. Es gibt keinen DDR-Bürger, der nicht gleichzeitig DDR-und BRD-Medien nutzt. Deshalb wissen natürlich auch alle Bescheid über Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Rauschgiftsucht.

Trotzdem standen am Anfang dieses Aufbruchs Zehntausende, die die DDR freiwillig mit diesen Verhältnissen vertauscht haben.

Das waren sehr viele junge Leute. Wenn ich käme, hätte ich hier doch sehr große Probleme.

Braucht die DDR Schonräume im doppelten Sinn: Schonräume für den einzelnen gegen eine Ellenbogengesellschaft. Schonräume für das gesamte System für ein gesellschaftliches Experiment zwischen real existierendem Sozialismus und Kapitalismus?

Ich glaube, daß es dafür einen ziemlich weit verbreiteten Wunsch in der DDR gibt. Das Wort „Sozialismus“ kann man ja fast nicht mehr benutzen für das, was bei uns bislang gewesen ist. Das war ja eher eine Mischung aus Stamokap und Feudalismus. Deshalb wollen wir uns jetzt erst mal fragen dürfen: Kann man Sozialismus vielleicht doch und ganz anders realisieren.

Ist das der Traum von Intellektuellen in den Oppositionsgruppen oder ist das die Stimmung in allen Bevölkerungsschichten?

Unter allen demokratischen Gruppen ohnehin. Das „Neue Forum“, „Der Aufbruch“, „Demokratie jetzt“ - alle halten am Prinzip „Sozialismus“ fest. Viele Arbeiter, das muß man zugeben, halten das natürlich für intellektuelles Gespinne. Die sagen: Wir arbeiten, dafür wollen leben. Der Sozialismus hat uns nur verarscht. Von der SED haben wir die Nase voll. Wir wollen jetzt statt Trabi auch mal ein anständiges Auto unter den Hintern kriegen.

Bringt das die oppositionellen Gruppen nicht in die Zwickmühle: In der BRD gibt's jetzt die, die der DDR Wiedervereinigung mit dem Versprechen predigen: Wir machen aus euch ein Land mit Golfs und Videorekordern, in dem das Geld was wert ist. Auf der anderen Seite gibts in der DDR seit Jahrzehnten unterdrückte Konsumbedürfnisse. Das paßt doch zusammen.

Die Gefahr besteht. Ganz real. Und ich sehe nur ein Gegenmittel: Den demokratischen Dialog zwischen den Menschen hier und dort. Gespräche über die Grenze. Wir brauchen keine Leute, die uns erzählen, wie grauslich hier in der BRD alles ist. Das glaubt niemand! In der BRD ist es hell, bunt und frei. Wenn ihr hier von schlechten Verhältnissen redet, dann sind das Verhältnisse, die noch 10mal besser sind als bei uns. Trotzdem müßten Leute von hier glaubwürdig mit uns über eure Probleme reden. Gewerkschafter hier z.B. mit Gewerkschaftern bei uns über ihre Schwierigkeiten, sich gegen Konzernstrategien durchzusetzen.

Wenn man in der DDR jetzt nicht nur über freie Wahlen der Volkskammer, sondern über freie Wahlen des Gesellschaftssystems reden würde: Wie würde die Abstimmung ausgehen: für das Experiment 3. Weg oder für Marktwirtschaft a la BRD?

Ich würde das erste gerne hoffen, aber das zweite befürchten. Es würde sehr knapp hergehen. Ich fürchte, es würde für Marktwirtschaft ausgehen. Int.: K.S