Die einundneunzigste...

■ ...Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13.August seit dem Mauerbau Ein nostalgisches Potpourri für die wartende internationale Journaille

Noch einmal wehte durch das Mauermuseum am Checkpoint Charlie ein Hauch des Kalten Krieges. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August hatte zu einer Pressekonferenz geladen, die die gelangweilte Brandenburger-Tor-Journaille dankbar frequentierte. Tief gezeichnet vom 28jährigen Kampf gegen das innerdeutsche Grenzsicherungssystem, begrüßte der Vorsitzende Dr.Hildebrandt aufs schärfste die „deutsch -deutschen Umarmungen der letzten Woche“ - und wolte dann aber doch der jahrelangen „Grausamkeiten und Demütigungen“ und all jener, „die gebrochen aus der DDR-Haft kamen“, gedenken. Zu diesem Behufe hatte er ein Potpourri aus Leuten zusammengestellt, „für die die Mauer Schicksal wurde“. Vor die Kameras trat der erste geflüchtete Volksarmist, Conrad Schumann, der am 15.August 1961 unter Westberliner Jubel über Stacheldraht sprang. Über die Öffnung der Mauer, bekannte er, habe er sich sehr gefreut. Dann erzählte Gisbert Greifzu seine Fluchtgeschichte. Da er „in der DDR keine Existenz mehr gesehen“ habe, wagte er vor fünf Jahren mit einem Freund die Flucht nach Bayern. Schon im Sperrgebiet wurden sie von einem Förster aufgespürt und beschossen, konnten aber entkommen. Nach Überwindung einiger defekter Signalzäune krochen sie zwei Stunden auf allen Vieren durch die Grenzanlagen, bis zu einem Zaun, der mit einer der damals sechzigtausend Selbstschußanlagen ausgerüstet war. Nachdem sein Kumpel den Zaun ohne Probleme überklettert hatte, stieg auch er auf den „Todesautomaten“, der ihn prompt mit fünfzig Geschoßsplittern durchsiebte. „Irgendwie ein blödes Gefühl war das, jetzt bist 'n Krüppel, dachte ich.“ Er machte aber noch einen Versuch und überwand den Zaun und das letzte Feld. Heute strahlt er und hält den Kameras die herausoperierten Patronensplitter entgegen und das Röntgenbild der beiden Splitter, die er noch mit sich herumträgt.

Dann wurde ein Held der Fluchthilfe gefeiert, Harry Seidel, der beim damals beliebten Tunnelbau auf den schwierigen Durchbruch spezialisiert war. Schließlich inszenierte die Stasi einen Tunnelbau eigens für Harry und nahm ihn fest. Verurteilt zu lebenslanger Haft, wurde er nach vier Jahren freigekauft.

Daß die Arbeit mit der Öffnung der Mauer aber keineswegs beendet sei, betonte der Vorsitzende Hildebrandt nachdrücklich: „Der Kampf geht weiter.“ Immerhin sind weiterhin etwa 800 politische Häftlinge in DDR-Knästen, für die die Oktober-Amnestie nicht gelte. Christian Flade zum Beispiel, dessen Vater erschienen war, hatte mit einem LKW einen Grenzdurchbruch versucht; seine Begleiterin wurde nach zwei Monaten entlassen, er selbst wurde zu sechs Jahren verurteilt. Mit dem Verweis auf Tolstois Wort „Einen Staat kennt man erst, wenn man seine Gefängnisse gesehen hat“ setzt die Arbeitsgemeinschaft ihre Arbeit um Freilassung der politischen Gefangenen fort. Der Satz gilt übrigens auch für die bundesdeutschen Gefängnisse.

Olga O'Groschen