Der lange Abschied von Väterchen Stalin

■ Westberliner Schrumpfpartei SEW setzt mit neuem Geschäftsführenden Ausschuß nach AL-Vorbild voll auf Perestroika / Aber noch Rückzugsgefechte um die Notwendigkeit der Mauer und des „Demokratischen Zentralismus“ / 48 Stunden Mammutsitzung

„Man fühlt sich schon schlecht“, bekannte gestern der (noch) amtierende SEW-Vorsitzende, der 59jährige Maschinenschlosser Dietmar Ahrens, freimütig vor Journalisten. Zwar war das Charlottenburger Parteihauptquartier wie eh und je mit dicken Stahltüren wie eine Festung geschützt, dennoch ist auch bei dem Häuflein der Westberliner Einheitssozialisten nichts mehr so wie früher. Abschied vom Stalinismus heißt das derzeit voll auf der Tagesordnung stehende historische Lehrstück, wozu auch ganz neue Bekenntnisse und Verfahrensweisen gehören. So wählte der SEW-Vorstand am Wochenende in einer rund 48stündigen Mammutsitzung in vier aufeinanderfolgenden Wahlgängen einen neuen 18köpfigen Geschäftsführenden Ausschuß (GA), der jetzt eine für den Januar vorgesehene Versammlung aller Parteimitglieder vorbereiten soll. Das Gremium sei nicht mehr von hauptamtlichen Funktionären dominiert und - anders als bisher üblich - höchst demokratisch mit einer 50prozentigen Frauenquotierung sowie nach dem Mehrheitsprinzip gewählt worden, hieß es gestern stolz.

Notwendig wurde die Prozedur durch den erst in der letzten Woche von der kritischen Parteibasis erzwungenen kollektiven Rücktritt der SEW-Führungsspitze. Um dieser Stimmung an der Basis Rechnung zu tragen, ließ der abgehalfterte Parteivorstand - der gleichwohl noch amtiert - gestern auch eine geradezu revolutionär klingende Erklärung im Parteiblatt 'Die Wahrheit‘ einrücken. Die Westberliner Kommunisten müßten davon Abschied nehmen, daß sich hinter der Formel vom Vorbild des real existierenden Sozialismus „ein wie auch immer geartetes Modell für unsere Stadt“ verberge, heißt es darin. Die Ursachen der Entwicklungen in der DDR lägen nämlich „zum größten Teil in stalinistisch geprägten Deformationen des Sozialismus“.

Schon bei der Haltung zur Mauer herrscht indes wieder Angst vor der eigenen Courage vor. Deren Funktion sei durch die Freizügigkeit des Reisens und Ausreisens im wesentlichen „faktisch aufgehoben“, wird einerseits eingeräumt. Bestehen bleibt nach Einschätzung des SEW-Vorstandes jedoch die „politische Funktion“ des Bauwerks, die „sensibelste Grenze an der Nahtstelle zwischen West und Ost“ zu markieren. Zu den bis heute nicht verschwundenen, wesentlichen Bedingungen, die zum Mauerbau geführt hätten, zähle, daß West-Berlin immer noch „ein Zentrum westlicher Geheimdienste“ sei. Schwer tut sich die SEW insbesondere noch mit dem Abschied vom Prinzip des „Demokratischen Zentralismus“ bolschewistischer Prägung.

Hier gebe es „durchaus unterschiedliche Auffassungen“, wandt sich der Interimsparteivorsitzende Ahrens gestern beim Pressegespräch. Bisher sei man davon ausgegangen, daß es notwendig sei, „die demokratische Komponente des Demokratischen Zentralismus zu stärken“, erläuterte Ahrens. Er räumte allerdings ein, daß es bei einer „Reihe von Genossen“ Überlegungen gebe, sogar den Namen der Partei zu ändern. Alle Diskussionen in dieser Richtung sollen zielstrebig, aber „ohne Hektik“ geführt werden, gab der ins Wanken geratene SEW-Vormann zu bedenken.

Nach den Worten seiner Stellvertreterin Inge Kopp wünscht sich die Partei immerhin, daß das angekündigte Nachfolgeorgan der Parteigazette 'Wahrheit‘ auch finanziell ganz unabhängig von der großen Mutter SEW sein wird.

thok