PSCHYREMBEL

■ Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen und Nomina Anatomica"

Lektüre für leidenschaftliche Hypochonder, dachte ich. In der 256. Auflage ist das klinische Wörterbuch „Pschyrembel“ jetzt. Als Erscheinungsjahr steht 1990 drin. 1894 erschien die erste Ausgabe, herausgegeben von Otto Dornblüth. Von 1934 bis 1984, von der 21. bis zur 254.Auflage, war Willibald Pschyrembel der Herausgeber, seit 1986 wird das Standardwerk der deutschen Medizin unter der Leitung von Christoph Zink ediert. Ich dachte mir den typischen Leser nicht als einen der smarten Halbgötter in Weiß, sondern als einen jener älteren Männer, die begeistert Medikamente hamstern, um die Gebrauchsanweisungen zu studieren. Jene Leute, die, wann immer von einer Krankheit die Rede ist, sofort überprüfen, ob sie nicht an sich Symptome des schrecklichen Leidens, von dem sie gerade erst erfuhren, feststellen können. Der Pschyrembel, so dachte ich, bietet diesen Süchtigen Stoff für ihre selbstzerstörerische Lust.

Seit ich den dicken Band in Händen halte, weiß ich: Das ist Blödsinn. Die Beschreibungen machen nicht den ersten Reiz des Buches aus. Da sind die vielen kleinen Fotos, meist bunt, die die absonderlichsten Krankheiten zeigen. Sie lassen einen nicht los. In kaum einem Buch liegen Lachen und Weinen so untrennbar zusammen wie in den Abbildungen Pschyrembels. Der Kopf der asiatischen Porphyrstatue auf Seite 78 erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Fall von Anenzephalie, ein Säuglingskopf ohne Schädeldecke. Die drei wie von Gerhard Richter gemalten Gesichter gehören einem Säugling, einer - wie die Fotounterschrift erläutert „Doppelfehlbildung mit drei Augenanlagen und einer rudimentären zusätzlichen Mundöffnung“. Es ist die wunderbare Welt der Gebrechen, die faszinierende Schönheit des anderen. Da ist ein Paar, so innig umarmt, so schön beisammen in der Mitte des Leibes, wie wir es nur träumen können, und dann: ein Alptraum, es sind an Thorax und Bauch miteinander verbundene siamesische Zwillinge. Die schreckliche Verwirklichung einer Liebesutopie. Soweit das Betrachten der Bilder.

Eine andere Attraktion dieses einmaligen Buches sind die Wörter. Rätselhaft schöne, anzüglich obszöne. Da gibt es eine Fick-Formel, eine Füllungszeit des Herzens, aber auch Cafe-au-lait-Flecke. Ihre Umgebung, die technischen Begriffe, die griechisch-lateinischen Konstrukte, lassen diese scheinbar naiv-verständlichen Laute schön erscheinen wie seltene Fremdwörter, geben ihnen einen exotischen Reiz, erwecken sie zum Leben.

Das Allerschönste dabei ist: Die Erläuterungen nehmen ihnen den Reiz nicht. Wer dumm ist, darf es bei Pschyrembel bleiben. Reithosenanästhesie wird z.B. so erläutert: „Sensibilitätsstörungen im Bereich der spinalen Segmente. S1 -S2 bei Schädigung des Conus medullaris oder der Cauda equina.“ Hier wird kein Geheimnis entweiht. Jedes Wort bleibt heilig, nichts wird profaniert. Die Erläuterungen dienen nicht der Aufklärung - jedenfalls liest der Laie das so -, sondern sie führen den Leser von der einen Frage zu zehn neuen. Das Wörterbuch als Verrätselung.

Wem das nur weihevoll klingt, der hat das Heilige nicht verstanden. Der Ulk gehört dazu. Über die „Petrophaga lorioti“ - von Bülow läßt grüßen -, die „Steinlaus“ also, heißt es z.B.: „Seit ihrer Erstbeschreibung (1983) ist die St. - u.a. infolge der noch immer offenen Frage ihrer realen Existenz - Gegenstand intensiver Forschung in- und ausländischer Arbeitsgruppen.“ Die Abbildung wird auch den gläubigsten Leser davon überzeugen, daß hier der Gott der Gauner und Betrüger ihn geleimt hat.

Abgesehen von all diesen Freuden, die der Pschyrembel bietet, ist er auch noch unentbehrlich. Wer die wunderschöne „Lolita„-Ausgabe des Rowohlt-Verlages liest, wird auf den mehr als zweihundert Seiten Anmerkungen vergeblich nach einer Erklärung des Wortes „Perineum“ suchen. Wer glaubt, bei Brockhaus und Meyer Nachhilfestunden nehmen zu können, wird enttäuscht werden. Pschyrembel dagegen bietet Trost und - Ausnahmen bestätigen die Regel - Aufklärung: „Raum zwischen After und Genitalien.“

Pschyrembel Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen und Nomina Anatomica, 256., neu bearbeitete Auflage mit 2.670 Abbildungen und 265 Tabellen auf 1.876 Seiten, 68 DM