Pubertäre Unfähigkeit-betr.: Durchbruch des nationalen Einheistgefühls

Durchbruch des nationalen Einheitsgefühls

(...) Eine gefährliche Brüderlichkeit weit weg jedweder Vernunft macht sich dort an der Mauer breit, ein pur emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl ohne wohlüberlegter Grundlage treibt zu Siegesfeiern der Westberliner wie nach einem gewonnenen Nationalkrieg gegen den Kommunismus. Es macht sich dort an der Mauer und auch in den Köpfen vieler dort nicht Anwesenden der nationale Wiedervereinigungswahn breit.

Die Forderungen nach Abriß der Mauer von Westberliner Seite sind eine abscheulich anmaßende Arroganz. Wir Westdeutschen haben keine Mauer, außer die starre Betonwand in unseren Köpfen. Hinter solchen Forderungen steckt nur die pubertäre Unfähigkeit, unsere Geschichte anzunehmen und daraus zu lernen, statt immer wieder mit vergangenheitsverdrängenden Absichten eine Korrektur zu versuchen.

Doch die Geschichte ist wahr und unabänderbar. Die DDR als eigenständiger Staat geht uns genausoviel an wie Chile, Nicaragua, Südafrika. Dort hält sich unser Engagement aber bis zur Existenzlosigkeit in Grenzen. Was in den Köpfen der bis zur durch Verstaubung bedingten Blindheit konservativen westdeutschen Bevölkerung und PolitikerInnen noch immer herumgeistert ist nicht ein freier, demokratischer und sozialistischer Rechtsstaat, sondern das großmächtige Gesamtdeutschland nach bundesrepublikanischem, kapitalistischem Vorbild.

(...) Genau wie die USA plötzlich mit Marshal-geplanter Hilfe BRDeutschland unterstützte weil sie es damals als Bündnispartner gegen den neuen Feind UdSSR benötigten, so nimmt jetzt auch die strategisch begründete, bundesdeutsche Unterstützung der DDR unübertreffliche Höchstmaße an. Den freiwilligen AussiedlerInnen werden großzügige Hilfen gewährt, während politisch verfolgte Flüchtlinge aus der Türkei oder dem Iran auf bürokratische Weise als Wirtschaftsflüchtlinge entlarvt, gewissenlos in den sicheren Tod abgeschoben werden, da die BRD kein Wohlfahrtsstaat sei und sich zu allererst um ihre eigenen BürgerInnen kümmern müßte. Letzteres läßt lange auf sich warten, denn die BRD tut wirklich nichts ohne tiefere Hintergründe profitabler Art. Die soziale Einsicht wird in diesem Industriestaat von allein nie kommen.

Deswegen ist das größte Unglück, das diesen Staat noch lebensunwerter machen würde, die Entstehung eines kapitalistischen und materialistischen Großkotzdeutschland. Aber leider ist zu befürchten, und es ist auch sehr wahrscheinlich, wenn nicht die oppositionellen Kräfte sowohl in der DDR wie auch in der BRD kräftiger für den ideellen Sozialismus und Kommunismus kämpfen, daß die guten sozialistischen Ansätze in der DDR durch die wirklich nötige Demokratisierung verloren gehen. (...)

Die in der BRD großteilig vorhandene Deutschtümelei läßt politische Weitsicht schmerzlich vermissen, denn das einzig Erstrebenswerte für die nähere Zukunft der Auslandspolitik ist die Vereinigung von Gesamteuropa ohne Grenzen, also auch unter der Einbeziehung der Osteuropastaaten, wobei sich auch die Blockstaatlichkeit in ihre Nichtigkeit und Neutralität auflöst.

Falk Wolf Schneider, Berlin