Ich habe Angst vor dem, was dahinterliegt

Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel: Der Fall der Mauer beeinflußt nicht nur die Zukunft, sondern auch das Verständnis der Vergangenheit  ■ G A S T K O M M E N T A R E

So wie alle Menschen, die Teilung und Unterdrückung verabscheuen, freue ich mich für die BürgerInnen von Ost -Berlin. Und für die in West-Berlin. Es war ein bewegendes und lohnendes Erlebnis, im Fernsehen all die Zehntausende junge Deutsche zu sehen, die ihre Freiheit feierten. Wo und wann immer sie siegt, sollten sich die Menschen überall mitfreuen. Die Berliner Mauer war eine Schande. Ihr mörderischer Schatten - ein Alptraum.

Die meisten Gesichter im Fernsehen waren jung. Man konnte nicht anders als sich mit ihnen freuen. Ihre Eltern und Großeltern hatten unerträgliche Bürden und schwere Lasten auf ihre Schultern abgeladen. Sicherlich war es nicht leicht für sie aufzuwachsen mit der Frage: „Was hat mein Vater während des Krieges gemacht?“ Ich dachte, sie verdienen die Chance des Neubeginns. Niemand sollte ihrer Ausgelassenheit mißtrauen.

Daß das alles in Berlin geschah, hat dem Ereignis eine besondere Bedeutung gegeben. Was vor 50 Jahren die Hauptstadt des absolut Bösen war, ist nun plötzlich ein Symbol der Hoffnung geworden. Wenn das möglich ist, dachte ich mir, warum dann zweifeln, daß solche Dinge auch in anderen Gegenden der Welt möglich sind - beispielsweise im Nahen Osten?

Doch dann, wie immer, machten politische Überlegungen Gefühlen Platz. Kommentatoren und Analytiker fingen an, die hinfälligen Fragen zu stellen: Was kommt jetzt? Wird diese unerwartete Wende zu einer Wiedervereinigung Deutschlands führen? Wenn ja, wann? Was wird das für das internationale Szenario bedeuten? Wird ein vereintes, starkes, neues Deutschland sich losreißen können von jenen eroberungssüchtigen Dämonen, die das alte Deutschland ausmachten? Ich kann die Tatsache, daß der Jude in mir besorgt, ja alarmiert ist, nicht beiseite lassen. Wann immer Deutschland zu stark war, fiel es Versuchungen des Ultranationalismus zum Opfer.

Bedeuten meine Bedenken, daß ich der deutschen Jugend nicht traue? Nein. Ich hoffe, sie hat die Lektionen des Zweiten Weltkrieges gelernt und wird durch diese Erinnerung gestützt. Solange die alte Generation aber noch lebt, muß man wachsam sein, auf der Hut. Zur Erinnerung: Immer noch werden reaktionäre, antisemitische Zeitschriften in Deutschland veröffentlicht. Ex-Nazis haben ihre Vereine; einer ist Vorsitzender einer politischen Partei.

Der allgemeine Trend geht in Richtung „Normalisierung“, im politischen Bewußtsein wie in der Geschichte selbst. Wird dieser Trend den „normalen“ Impuls bewirken, eine neue Seite aufzuschlagen? Wenn dem so ist, geht der Rhythmus der Ereignisse nicht zu schnell? Bedeutet die Beschleunigung der Geschichte nicht Gefahr?

Mit anderen Worten: Was mich bei den Ereignissen in Berlin beunruhigt, ist nicht nur deren möglicher Effekt auf die Zukunft, sondern auch auf die Vergangenheit. Das Vergangene wurde tatsächlich schon berührt. „Der 9. November wird in die Geschichte eingehen“, erklärte der Bürgermeister von West-Berlin. Die Äußerung ging wie ein Echo um die ganze Welt. Man vergaß, daß der 9. November bereits Geschichte wurde - vor 51 Jahren, mit der Kristallnacht. Die Freude der Gegenwart überlagert die Vergangenheit. Niemand in Berlin oder sonstwo hat die Verbindung gezogen. Darum bin ich beunruhigt, frage ich mich: Was noch alles wird vergessen werden?

Ob meine Angst unbegründet ist? Ist sie meiner Herkunft als Jude geschuldet, der durch die Willkür gegen sein Volk von es war einmal irgendwann - Herrschern in Berlin traumatisiert wurde? Was sollte ich denn sonst fühlen, wenn ich die alt-neue Nationalhymne der Deutschen höre „Deutschland, Deutschland, Über alles“.

Der Autor wurde 1928 im damals ungarischen Sighet geboren. 1944 wurden Wiesel und seine ganze Familie zunächst nach Auschwitz deportiert. Im April 1945 wurde er aus dem KZ Buchenwald befreit. 1986 erhielt Wiesel den Friedensnobelpreis. Der Beitrag erschien zuerst in der Wochenendausgabe 18./19. der 'New York Times‘.