„Wir erfrieren nicht als nächste“

■ Fünf Langzeit-Obdachlose „belegen“ leere Wohnung in Charlottenburg / Vorher hatten sie die Nächte im Keller und im Nachtbus verbracht / Jugendliche „Remise„-Besetzer waren ihr Vorbild / Jugendliche und Alte wollen nicht wieder raus

An der Endstation werden sie immer geweckt. Trotzdem schafften es die beiden Obdachlosen Uli (39 Jahre) und Günter (40) in den Nächten der letzten vier Monate, im Nachtbus der Linie4 zu schlafen. Seit fünf Tagen schlafen sie nun zusammen mit ihren drei Freunden in einer Wohnung in der Dankelmannstraße in Charlottenburg, die von der Wohnungsbaugesellschaft „WIR“ nicht mehr vermietet werden sollte. Trotz des Kälteeinbruchs ist es angenehm warm, auf einem runden Tisch flackern zwei Kerzen ein halbes Dutzend leere Bierbüchsen an. Wolldecken liegen zusammengelegt auf einer Couch und zwei Matratzen.

An der Tür klopft Andreas. Er ist erst zwanzig, aber auch schon obdachlos, weil seine Eltern ihn rauswarfen. Er ist einer der zehn jugendlichen Besetzer zwischen 17 und 22, die vor zwei Wochen mit Matratzen und den „fünf dynamischen Obdachlosen“ in die Remise im Hinterhof der Danckelmannstraße einzogen, um endlich ein „eigenes Dach“ über dem Kopf zu haben. Vorher beherbergte die Remise, ein 110 Jahre altes Bauwerk, eine Tischlerei, und und davor Pferde. Die „Dynamischen Fünf“ zogen hier allerdings schnell aus in die Wohnung des Querhauses, weil ihr Raum in der Remise nicht beheizbar war.

Die zehn Jugendlichen schlafen aber weiterhin in der Remise, den zwei Öfen in den ersten kalten Nächten schon nicht mehr warm kriegen. Während der 22jährige Mirko erzählt, daß er seit einem halben Jahr erfolglos eine Wohnung sucht, beschlägt sein Atem. Jetzt ist sein Bett das gemeinsame Matratzenlager, unter dem billige Teppiche die hervorkriechende Kälte bändigen sollen. Eine Plastikplane trennt das Schlaflager vom Raum, um Ofenwärme festzuhalten. Im kalten Provisorium zwischen Sperrmüllmobiliar und unverputzten Wänden hat eine Spraydose das Lebensgefühl der zehn in schwarzen Buchstaben ausgedrückt: „Lebe wild und gefährlich“. Kaum weg von zu Hause, wollen die Jugendlichen in einer großen Wohngemeinschaft ihr eigenes Leben leben. Aus der Remise wollen sie nicht wieder raus.

„Ich kann keine Menschen mehr sehen, brauche meine Ruhe, brauche ein eigenes Zimmer“, sagt hingegen Peter, einer von den „Dynamischen Fünf“. Wovon die Jugend in der Remise träumt, hat der 38jährige schon '68 erlebt: „Da habe ich in Kommunen gelebt“, und seine langen Haare zeugen noch heute davon. Die letzten drei Monate konnte man ihn nachts immer auf dem geheizten Damenklo am Dampfer-Anleger Wannsee treffen, „die einzige Toilette, die ich kenne, in der ich mich ausstrecken konnte“. Auch der 52jährige Wolfgang will endlich „menschenwürdig wohnen“, und nach den schlaflosen Nächten in den lauten „Läusepensionen“ keine Leute mehr um sich haben. 15 Jahre ist er jetzt obdachlos, hat kaum noch Haare und keine Augenbrauen mehr. Seit Mai „wohnte“ er in einem Keller mit einem 51- und einem 70jährigen Obdachlosen. In den vergangenen 15 Jahren hat Wolfgang „die Platte“ kennengelernt, ob nun Dachböden, Lüftungsschächte, Parkbänke oder Nachtbusse. Was in den ersten Wintertagen aus den Wohnungslosen wird, weiß Wolfgang nicht: „Die meisten knallen sich mit Alkohol die Birne gegen die Kälte dicht. Wenn der Frost kommt, macht eben mancher den Arsch zu.“

Die „Fünf Dynamischen“ wollen aus der „belegten“ Wohnung nur wieder raus, wenn sie nicht endlich Wohnungen bekommen. „Wir sind nicht die nächsten Erfrierungstoten“, kündigt der 52jährige selbstbewußt an.

Dirk Wildt