: Wiedervereinigung
Die deutsch-deutsche Tonart ändert sich ■ K O M M E N T A R E
Sind die glücklichen Tage des Frühlings im Herbst schon vorbei? Die Millionenkundgebung am Alexanderplatz, die Montagsdemonstrationen in Leipzig, der massenhafte Aufbruch zum aufrechten Gang bis in die letzten Kleinstädte hinein, der aggressive Witz der Friedfertigen und die immer härter werdenden Forderungen der Opposition - all das ließ, zum ersten Mal, an eine DDR-Identität glauben. Es war die Identität einer revolutionären Bewegung, einer Demokratisierung von unten, eines geschichtlich neuen Massenbewußtseins ohne Führer und Strategen, die die Hoffnung erweckte, daß die bundesdeutsche Wiedervereinigungsrhetorik endlich dorthin käme, wo sie hingehört: in die Endlagerung historischen Giftmülls.
Dies gilt auch noch heute. Aber diese Erfahrung läßt sich nicht beschwören, nicht als Bastion verteidigen. Die Massen werden wütender. Hunderttausende skandierten auf dem Karl -Marx-Platz die Zeilen der nicht gesungenen DDR -Nationalhymne: „Deutschland einig Vaterland“. Die DDR -Opposition zeigt erste Anzeichen von inneren Differenzen. Sie hat weder die Programme noch die populären Führer, die den Massen eine Alternative zum einigen Vaterland der Deutschen vor Augenstellen könnten. Die Reformregierung Modrow ist nach wie vor Objekt der Massendynamik.
Es ist nach wie vor richtig, die Massen der DDR sind eine revolutionäre Bewegung, eine siegreiche Bewegung. Sie haben die Regierung gestürzt, sie haben das Politbüro ausgewechselt. Krenz wird womöglich am 18. Dezember hinterhergeworfen. Sie haben vor allem die Öffnung der Mauer, die Preisgabe des wichtigsten, des zentralen Machtmittels der DDR-Regierung erzwungen. Die Maueröffnung ist keineswegs nur Reiseerleichterung, es ist der Sturz des Staates. Die Staatssicherheit ohne Mauer ist ein Phantom, die Massenkontrolle ohne geschlossene Grenzen nicht mehr existent. Aber: die Massen haben die geöffnete Mauer nicht als ihren Sieg, sondern als die Berührung mit dem kapitalistischen Überfluß erlebt. Man kann sich das Ku-Damm -Erlebnis gar nicht revolutionierend genug vorstellen. Es ist nicht die Fixierung auf Bananen und Transisteradios. Es ist die Entwertung eines ganzen Lebens, eines zähen Kampfes um den vergleichbaren Wohlstand, die Entwertung aller Beziehungen, Tauschideen und Schlangen, mit denen die Leute ihr Leben bezahlen mußten. Wenn jetzt Modrow die Bevölkerung beschimpft, sie würde ihr schwer erarbeitetes Geld wegwerfen, so ist das eine politische Bankrott-Erklärung. Was hat denn die Leute von der Wertlosigkeit ihres Geldes überzeugt? Doch wohl 40 Jahre DDR-Wirtschaft.
Wohlgemerkt: Das „Deutschland einig Vaterland“ in Leipzig ist keine nationalistische Parole. Es waren auch dieselben Leipziger, die anschließend in einer Schweigeminute ihre Solidarität mit den Tschechen bezeugten. Sie ist nicht einmal eine Wiedervereinigungs-Parole. Sie drückt zunächst einmal dies aus: radikaler Wandel, und zwar jetzt. Redner in Leipzig forderten die Wiedervereinigung vor allem und ausschließlich, weil für sie der Real-Sozialismus zusammengebrochen ist. Weil sie nicht fünf Jahre, nicht ein Jahr, nicht einen Monat mehr ihr Leben für eine vage Reformzukunft opfern wollen. Weil für sie die Verantwortlichen der Krise nun auch noch den Idealismus zur Krisenbewältigung einfordern. Und man muß sich fragen, ob das Kabinett Modrow, das kein Kabinett des nationalen Konsenses ist, das nicht vom Volke gewählt wurde, überhaupt je in der Lage sein kann, die revolutionären Massen auch nur für die ersten Reformschritte zu begeistern.
Greift in dieser Situation die Politik der Bundesregierung? Ihre Marschroute ist peinlich offen: Sie sieht die Regierung Krenz/Modrow mit dem Rücken zur Wand und nutzt das schamlos aus. Kein Wort zu Modrows Vorschlag einer deutsch-deutschen „Vertragsgemeinschaft“! Der vorgeschlagene Devisenfonds bedeutet nichts weniger, als das die DDR über noch weniger Devisen verfügen wird. Kohl setzt brutal auf das Scheitern der DDR-Regierung. Dieser Regierung muß man gewiß nicht viel Tränen hinterherweinen. Aber solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die DDR-Bevölkerung, die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt. Die Aufarbeitung des Stalinismus, das zur Rechenschaft Ziehen der Schuldigen, die Demokratisierung von Staat und Wirtschaft, ganz abgesehen von dem großen gesellschaftlichen Experiment, das mangels besserer Worte immer noch „demokratischer Sozialismus“ heißt, all das braucht die Existenz der DDR und nicht das Kalkül auf Zusammenbruch. Wo bleibt die SPD, die Grünen, die Gewerkschaften, die Kirchen im Westen, wann tun sie sich zusammen, um Sofortprogramme für die kleine Chance einer anderen DDR zu erzwingen? Oder soll man nur darauf hoffen, daß die schweißige Arroganz von Oggersheim so unverschämt auf den Konkurs der DDR hinzielt, daß der kleinere Teil Deutschlands schon aus Selbstachtung eine Vereinigung mit diesem saturierten Westdeutschland ablehnt?
Klaus Hartung
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