„Oper in kirchlichem Gewande“

■ Verdis Requiem in vollem Dom / Zum Bußtag eine Aufführung, die mit dem Wetter korrespondierte: Klar, nüchtern, zauberhaft

Der Buß-und Bettag ist so richtig im Kalender plaziert: Mitten im November. Dies Jahr litt er allerdings etwas darunter, daß der angekündigte Störungsausläufer mit kalter Meeresluft polaren Ursprungs und ergiebigen Schnee-und Regenfällen nicht mehr rechtzeitig das Vorhersagegebiet streifte.

Eine dem Ernst des Tages gerecht werden wollende Kultur

veranstaltung geistlichen Charakters hat niederdrückend gravitätisch zu sein und schlicht Innerliches, melancholisch Tröstendes zur Abdeckung des Betaspektes zu liefern. Domkantor Wolfgang Helbig hat sich wieder einmal für ein Werk entschieden, dessen Eignung für unseren Feiertag recht umstritten ist. Verdis vor 125 Jahren entstandenes Requiem, das für den grämlich

grauen Norden eigentlich schon durch Hans von Bülows Wort von der „Oper im kirchlichen Gewande“ gemeuchelt wurde, durfte im Bremer Dom am vorgestrigen Feiertage seine Kraft der extensiven Gefühle entfalten.

Anlaß für Verdis Ausflug in die Sakralmusik war neben dem Bedürfnis, Rossinis Beitrag zur italienischen Musik zu würdigen, auch Verdis unbändiger Drang, Allessandro Manzoni, von ihm „der Heilige“ genannt, ein musikalisches Denkmal zu setzen. Der Tod beider löste beim Meister persönlich Erschütterungen aus, die allerdings die Dimensionen individueller Betroffenheit weit überragten. Rossinis Tod 1948 brachte Verdi dessen Leistungen zu Bewußtsein, das ganze Italien zu einer begeisterten Operngemeinde zusammengeschweißt zu

haben. Manzoni ist auch einer der Väter des modernen Italiens: Er übernahm im politisch zerrissenen und unter den europäischen Großmächten aufgeteilten Italien als Literat, Aufklärer, Republikaner, Patriot und Romantiker die Rolle, die einst Luther in unserem Vaterlande gespielt hat. Er schuf eine einheitliche nationale Sprache.

Beides, Rossinis große Oper und Manzonis Beitrag zum nationalen Aufbruch, hätten eine explosiv spektakuläre Mischung zwischen Wilhelm Tell und Gari

baldi ergeben können. Ganz so kam es allerdings nicht. Verdi blieb sich auch in seinem Requiem treu. Die großen historischen Momente, der Kampf um Einheit und Republik stehen nicht im Zentrum der Gestaltung. Sie werden reflektiert in individueller Tragik und herzsprengender Darbietung tiefster individueller Erschütterungen. Die plakativen Prunk-und Horrorstellen bilden lediglich den Rahmen für ein Solistenquartett, das meist vereinzelt seine Ängste (was werde ich Ärmster sprechen?), sein Flehen

(rette mich, Urquell der Gnade), Lamentieren (laß mich jetzt nicht untergehen), Selbstbezichtigung (Schuld rötet meine Wange) und Selbstzweifel (nichtig ist mein Gemüt) nachdrücklich in großen melodischen Bögen artikuliert. Man merkt schon an den Textzitaten, daß der liturgische Text nach Entfaltung in der großen Oper schreit.

Der Domkantor setzt Verdis Requiem kleine Ausschnitte aus den Werken der umtrauerten Personen voraus. Ein Präludio religioso für Orgel des verehrten Rossini und ein Text des geliebten Manzoni „Auferstehung“ zeigen die Quelle von Verdis Hinwendung zum Sakralen.

Leider nur in Ansätzen, waren es doch gerade die „weltlichen“ Leistungen der Verblichenen, die sie dem Meister so nahe gebracht haben (vielleicht hätte doch die Ouvertüre zu Wilhelm Tell für Orgel gesetzt und ein Auszug aus dem Abschlußbericht der Senatskommission zur Vereinheitlichung der italienischen Sprache einen besseren Zugang ermöglicht.).

Die Wiedergabe des Requiems im Dom mit Domchor, dem Bremer Bach-Collegium, den Solisten Csilla Zentai, Sopran, Gab

riele Schreckenbach, Mezzo-Sopran, Mihai Zamfir, Tenor, und Manfred Scholz, Bass, entsprach in vollem Umfang der Wetterlage am Feiertage: Klar, nüchtern mit zauberhaften herzerwärmenden italienischen Einsprengseln, die wir vor allem Zamfirs tenoralem Schmelz verdanken.

Ein exakt artikulierender Chor, der so manche Phrase inbrünstig aber kontrolliert erblühen ließ, ein solides Orchester, das gerade auch den Blaskapellencharakter der volkstümlichen „Massenszenen“ mächtig, grell und hart zum Klingen brachte, Solisten, die ihre Fähigkeit zu opernhaften Darbietung klug im Zaume hielten, machten unter Helbigs auf Disziplin bedachtem Dirigat deutlich, daß dieses Werk nicht nur als glattes Grand Spectacle in der Arena von Verona seinen Platz hat.

Es war eine gelungene, in ihren besten Momenten auch beklemmende Aufführung zu hören, an der man allenfalls die ganz leisen Töne vermissen könnte. Ein reichlich vorhandenes Publikum dankte nach angemessen ergriffenem Schweigen mit befreitem Beifall. Mario Nitsch