Das ewige Buch

■ Über Peter Kurzeck

Mach jetzt die Fenster auf und such dir in aller Ruhe einen Platz hier zum Schlafen. Den Mantel hast du schon an, komm, wir gehn noch ein Stück, die Straßen noch naß, das war, als ich heimkam heut Mittag; kein Tag soll verloren sein!“

Diese Passage immer und immer wieder gelesen: rätselhaft -einfache Sätze, die so disparat erscheinen, daß wir sie kaum zusammendenken können. Vom Ausruhen ist die Rede, gefolgt von einer freundlichen Aufforderung zu einem gemeinsamen Spaziergang; da wird eine beiläufige Wahrnehmung notiert, die scheint's doch nur Erinnerung ist, und vor einem Ausrufezeichen wird diese Erinnerung beschworen.

In diesen Sätzen ist angedeutet, was die drei bisher erschienenen Romane Peter Kurzecks inhaltlich wie formal bestimmt: die ungelenkte, ziellose Rede zu einem fiktiven Gegenüber und also auch zu sich selbst, das unablässige Eindringen von Erinnerungen und Realitätswahrnehmungen in diese Rede und der Zwang, beides zusammenzuführen zur ewigen Gegenwart; der Erzähler als Gralshüter der Geschichte der Welt, als verzweifelnder Bewahrer des Weltgedächtnisses: „Was ich mir alles merken soll, die gesamte Geschichte der Menschheit bei jedem Erwachen, überdies meine eigene...“ Peter Kurzeck schreibt das ewige Buch.

Aus seinem zweiten, Das Schwarze Buch genannten Roman sind die bisherigen Textstellen zitiert. Dieser Roman ist ein monströser Erzählstrom, aus dem ein schemenhafter Protagonist auftaucht, dessen Persönlichkeit die angesprochene Ausdehnung der Gegenwart direkt zu spiegeln scheint. Schon sein Name „Merderein“ scheint aus mehreren zusammengesetzt und so ist es der ganze Mensch: “...sehen wir ihn, sehen wir mehrere Merdereins in verschiedenen Stadien der Gegenwärtigkeit ab- und anwesend in ihren ewiggleichen x-mal vier Wänden hier und dort wie auf vielen durchsichtig übereinander kopierten Filmen...“

Merderein ist „der“, „du“ und „ich“, und die Anzahl der Pronomen entspricht der seiner Tode: er ertrinkt im Stadtbad Mitte, er wird von einem Laster überfahren und bricht, als er den vermeintlich zugefrorenen Main überqueren will, durch das Eis. Und auch im übertragenen Sinne erweist sich der angeblich tragende Boden auf dem der Erzähler (Merderein -Kurzeck-Gott) steht als zu dünn. Immer wieder erleben wir Einbrüche in Vergangenheiten und Einbrüche in andere, ständig wechselnde Identitäten, zum Beispiel in die einer ihr Leben erzählenden Frau: Ich kenne keine erschütterndere Schilderung der sich zur Katastrophe steigernden alltäglichen Mißgeschicke.

Im Schwarzen Buch entwirft Kurzeck zudem ein erschreckendes Bild der Stadt Frankfurt. Die gehetzten Wahrnehmungen eines nicht endenden Ganges durch die Straßen erzeugen eine unscharfe, sich aber immer wieder verdichtende Skizze eines urbanen, durchorganisierten und gleichzeitig zerfallenden Lebensraumes.

Peter Kurzeck wurde 1943 in Böhmen geboren und kam nach dem Krieg als Flüchtlingskind nach Staufenberg, einem kleinen Ort bei Gießen. Er schreibt, seitdem er schreiben kann, und veröffentlicht auch früh in Lokalzeitungen. Aus der Muffigkeit der Lehre in einem Krämerladen treibt es ihn immer wieder auf Reisen: Wien, Paris, Triest. Und als naheste Verheißung von Leben: Frankfurt. Dorthin zieht er in den siebziger Jahren, zunächst nur, um mit dem Suhrkamp Verlag die Herausgabe seines ersten Romans vorzubereiten. Nach monatelangem Hin und Her scheitert das Projekt, unter anderem „weil Siegfried Unseld kein Alkohol-Buch wollte“. Mit dem Verlag Stroemfeld/Roter Stern wird aber kurz darauf ein Partner des Vertrauens gefunden und 1979 erscheint Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst.

Aus dem vorübergehenden Aufenthalt in Frankfurt ist ein dauernder geworden. Die Stadterfahrungen, der Alkoholismus und die Befreiung von ihm, das Leben mit Frau und Tochter sind im eingangs näher beschriebenen Schwarzen Buch verarbeitet. Dieses hat wie auch sein letztes einen klaren lokalen Bezug, der das Hinausdriften in Raum und Zeit immer wieder zentriert. Dieser Bezug fehlt im ersten Roman Der Nußbaum... Er ist geprägt von Ausbrüchen, Fluchten, von Heimatlosigkeit - jener Heimatlosigkeit der in den sechziger Jahren aufgewachsenen Generation, die sich einer bundesrepublikanischen Gesellschaft gegenüber sah, in der sie nur noch ein leerlaufendes Getriebe erkannte.

„Hier ist jetzt die meiste Zeit Abend.“ Sätze dieser Art tauchen ständig auf und beschreiben „die ewige Zeit Gegenwart“, in der sich Begebenheiten aus zwanzig Jahren ineinander verhaken. Ein nervöses und stark vom Alkohol geprägtes Buch: Klammereinschübe und Fußnoten splittern den mäandrierenden Monolog immer wieder auf. Hervorgekramte Erinnerungen, wie jene an das Klappern von Bierflaschen, die man als Kind in der Eckkneipe holen mußte und die man in einer karierten Familieneinkaufstasche, an deren Kunststoff die Farbe abblätterte, nach Hause trug, strömen hinein in die Geschichte eines Paares, das - sein Geld bei einem Bankraub erbeutet - von einem Kleinstadthotel zum nächsten flüchtet. Die Odyssee der beiden durch die deutsche Provinz ist einerseits Zeugnis des Bewußtseinszustandes des noch immer herrschenden Kleinbürgertums und andererseits der scheiternde Entwurf eines möglichen Widerstandes: die subversive Bewegung und die Behauptung der Liebe.

Kurzecks dritter, 1987 erschienener Roman hat thematisch sowie lokal und zeitlich einen festeren Rahmen: die Veränderung des Dorfes Staufenberg, wo der Autor lange Zeit lebte, und die seiner Menschen in den fünfziger Jahren.

In seinem eigenwilligen Stil, der sich immer ausgereifter als Kurzeck-Stil artikuliert, erzählt der Autor von diesem Ort. Die eindeutige Perspektive ist aufgeklappt und verschnitten zu ineinanderragenden, sich überstülpenden Flächen, kleinere zersplitterte Perspektiven bildend. So wird das Dorf, die Personen und deren Geschichten beschrieben, immer wieder wird neu aufgenommen, was schon als abgehandelt galt. Und das Interessante ist, wie hier bewußt mit den Mechanismen unserer Erinnerung gearbeitet wird; das bedeutet, daß durch die Arbeit des Erinnerns allmählich (und nie zur Gänze) ein Bild entsteht, erwachsen aus den vielen flächigen Eindrücken, die die Realität in unserem Kopf hinterläßt. Das ist sehr diffizil, aber auch sehr ergiebig. Zum Beispiel die direkte Spiegelung des Vorgangs der Erinnerung in der Sprache; wie plötzlich, ausgelöst durch einen Geruch, eine Madeleine, eine vermeintliche Nichtigkeit im Hirn freie, ungelenkte Assoziationen auftauchen, die längst vergessene Stimmungen hervorzaubern: „Wenn der Saal leer ist und du stehst auf der Bühne und rufst deinen Namen - dann dauert es jedesmal eine Weile, eine halbe Ewigkeit, bevor deine Stimme zu dir zurückkehrt, fremd und erschöpft. Wie nach Jahren: ein Nachmittag, wenn bei uns die alljährlichen Herbstregen zu Ende gehen.“

Peter Kurzeck geht es beileibe nicht nur um eine ganz eigenartige Geschichte des Erzählens, sondern um dieses Dorf Staufenberg, um die Beschreibung der Lebenszusammenhänge dort, die überlebensnotwendigen gegenseitigen Abhängigkeiten in der Nachkriegszeit. Das Dorf als eigene, in sich funktionierende Welt. Und es geht um die Zerstörung all dessen durch einen Fortschritt, der Bauern zwingt, in verrußten Fabrikhallen heiße Schlacke abzustechen: „Auf Schicht, vom Werk aus unentwegt heimdenken, ins Leben zurück. Und daheim nicht zu sich selbst kommen: keinen Zugang und man findet sich nicht.“ Und nicht zuletzt bietet der Roman einen Abglanz jener fünfziger Jahre, die kein Frühling der Republik waren; es regnet ständig, es ist sehr kalt und unwirtlich, keine Besserung in Sicht: „Ein und derselbe verregnete Herbst oder trostlose Vorfrühling schon seit Jahren...“

Was mir beim zweiten Lesen noch stärker auffiel, ist die Zuneigung, mit der die Menschen im Dorf geschildert werden; eine Zuneigung, die sich langsam aus dem kühlen Abstand heraus entwickelt und die sich auch in einer traurigen Verzweiflung äußert, angesichts des Anbruchs neuer Zeiten, die für jene nichts Gutes ahnen lassen: „Ein paar naßkalte verregnete Jahre, als sein eigenes Fragezeichen sich krümmen am verrottenden windschiefen Hoftor, magere Jahre, nach Luft schnappen, sich festhalten, spucken, keuchen und in Furcht und Ungeduld die Nacht herbeiwarten, Nacht um Nacht, wie einen angekündigten Unglücksfall.“

Martin Pesch

„Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst“, Roman 1979, 354 Seiten, 38 Mark, Stroemfeld/Roter Stern

„Das Schwarze Buch“, Roman 1982, 327 Seiten, 38 Mark, Stroemfeld/Roter Stern

„Kein Frühling“, Roman 1987, 336 Seiten, geb., 38 Mark, Stroemfeld/Roter Stern

„Kommt kein Zirkus ins Dorf?“, Hörspiel 1987, Hrsg. von Gideon Schüler, 160 Seiten, 22 Mark, Focus-Verlag