: Wendemanöver in der DDR-Provinz
■ In Rudi Dutschkes Geburtsort Luckenwalde probiert man vorsichtig den aufrechten Gang / Die Partei säubert sich, die Opposition findet sich - und die Technokraten nutzen die Gunst der Stunde / Von kleinstädtischen Massen und einer ganz kleinen Revolution
Alexander Smoltczyk
In der Pförtnerloge einer der Luckenwalder „Massenorganisationen“ sitzt ein hagerer Mann in blauem Hemd und schält eine Mandarine. „Aquarientechniker bin ick“, stellt er sich vor und schiebt einen Schnitz durch die Luke, sichtlich mit der Welt zufrieden: „Mit hundert Mark mußte haushalten. Die Aquarienläden in West-Berlin war'n zu, also blieb's bei 17 Mark 80 für Obst. Türken, wissen se, ha'ick ja nix gejen, aber die schachern. Aufpassen, saar ick.“ Früher sei er „ganz oben“ gewesen, sagt der Mann, im Berliner „Zettkah“, als Wachmann. Aber dann hätte er den Mund zu weit aufgerissen - „dumme Geschichte“ - und sei in die Luckenwalder Pförtnerloge strafversetzt worden. „Aber“, flüstert er und schließt die Luke, als ein Vorgesetzter vorbeigeht, „jetzt ham'se Angst, die Großen“, und reibt bedeutsam die Fingerspitzen seiner Linken aneinander, wie um das stumme Japsen eines Zierfisches nachzumachen.
Auf dem Schreibtisch von Fred Knobloch, dem SED -Ortssekretär, steht neben dem üblichen trüben Gummierfläschchen und der Topfblume ein schönes rotweißes Telefon. Aber die Arbeit, sagt er, mache keinen rechten Spaß mehr: „Seit August arbeite ich 14 Stunden am Tag. Feinarbeit unter den Massen. Nicht einfach, kann ich Ihnen sagen. Der Grundtenor ist: Ihr habt alles falsch gemacht. Dabei haben wir vieles bewegt - nur vielleicht nicht das Richtige...“ Das ist schön gesagt. Und weil sich die Luckenwalder Massen mit bloßer Bewegung als Ziel nicht mehr begnügen wollen, hört Ortssekretär Knobloch, ein angenehm freundlicher Zeitgenosse, auf den Wohnbezirksversammlungen der letzten Wochen Töne wie diese: „Wenn Ihr mir nich sofort den Fußweg legt, mach ick rüber in'n Westen.“ „Laß die doch machen!“ maulen die Bürger, und viele hören kaum mehr hin, wenn die „Agitatoren“ von dem neuen Boulevard schwärmen, jener Fußgängerzone, auf die Knobloch mit Recht so stolz ist.
„Das Volk hatte Arbeit und Brot, aber der i-Punkt fehlte: Reisen, Presse, Meinungen. Jetzt sind wir auch in Luckenwalde in eine neue Etappe eingetreten. Das Volk muß noch mehr mitbestimmen.“ Das Leben des Fred Knobloch ist komplizierter geworden. Freie Wahlen, Änderung der Verfassung - die Forderungen des Neuen Forums hat er sich längst zu eigen gemacht. Aber der Dank der Massen bleibt aus. Man vernimmt einen flehenden Unterton in der Stimme des Ortssekretärs, wenn er erzählt, wie „das Volk“ von ihm die Wohnungen der Übersiedler verlangt und dann sauer ist, wenn er im Geist der Wende „streng nach Vergabeplan“ vorgehen will.
Preußischer als die Hauptstadt
Luckenwalde, 27.000 Einwohner minus 400 Übersiedler, liegt im Bezirk Potsdam, sechzig Kilometer südlich von Berlin. Wohl auch wegen seiner Randlage war das Städtchen immer schon etwas preußischer als die Hauptstadt. Gegenüber der Post stehen auch heute noch die Gedenksäulen stramm, die an den preußisch-dänischen Krieg erinnern. Im Industrieviertel lange, gerade Mauern an tiefgefurchtem Kopfsteinpflaster, ein Wälzlagerwerk, eine Edelschnapsfabrik: Zulieferer für die Hauptstadt, mittelständische Betriebe ohne Mittelstand. Die Tuchfabrik, einst ein Familienbetrieb, dann „arisiert“, jetzt „volkseigen“. In der Kaserne am Ortsausgang haben sich „die Freunde“ einquartiert. Rotarmisten gehören zum Stadtbild wie die eingeschossigen Handwerkerhäuser.
Die Kirche hatte nie viel zu sagen. Luckenwalde war immer eine rote, eine Arbeiterstadt. In den fünfziger Jahren, so berichtet ein Lehrer, wurden im Städtchen Antennen von den Dächern gerissen, Fernseher beschlagnahmt und in parteieigene Schaufenster gestellt: „Mit mir hat Familie Soundso Westfernsehen geschaut“, stand dann da. Die Macht sitzt im „Kreml“, dem antennenbestückten Haus in der Dimitroffstraße, wo die SED-Kreisleitung residiert. „Die Partei“ hatte nicht nur immer recht, sie verfügte mit ihrem Sekretärsystem auch über ein effizientes Instrument der Doppelherrschaft. Ohne den Segen des Kreissekretärs für Landwirtschaft lief im Rathaus etwa in Sachen Flurplanung gar nichts.
„Früher“ heißt
„vor vierzehn Tagen“
Doch all das war „früher“. Die Genossen in SED, FDJ und im Rat des Kreises sprechen von der Zeit „vor der Wende“ wie von einer fremden, längst entschwundenen Epoche. „Früher“, sagt ein führender Genosse im Rat, „hätten Sie die Fragen schriftlich einreichen müssen, und die Antworten hätte ich noch vor einer Woche mit der Kreisleitung absprechen müssen.“ Jetzt plaudert er ungezwungen wie ein Kneipenwirt.
Wann genau die Luckenwalder Revolution stattgefunden hat, weiß niemand zu sagen. „Irgend etwas ist anders geworden“, sagen die Leute. Da gab es die zähe Arbeit der Johannis -Gemeinde, die Friedensgebete und Aussprachen, aber bei dem schlechten Ruf der Kirche blieb die Gemeinde isoliert. Und so war es schließlich ein langjähriger SED-Genosse, der Apotheker Ulrich Wießner, der die ersten Unterschriften für das Neue Forum sammelte: „Ich bin vor 20 Jahren als junger Mann aus idealistischen Gründen in die Partei eingetreten und mußte die bittere Erfahrung machen, daß Veränderungen im Apparat unmöglich waren. Alle waren stets einer Meinung. Ich habe es als Einzelkämpfer versucht und mich dann ins Private zurückgezogen. Als ich von dem Aufruf des Forums hörte, habe ich mich nochmal aufgerafft.“ Neben der Gewißheit, daß die sowjetischen Panzer, die im Bezirk Potsdam dicht an dicht stehen, nicht eingreifen werden, war es ausgerechnet die Jubelfeier zum 40. Jahrestag der DDR, die ihm den Anstoß gab, sich wieder in die Politik einzumischen: Der Bevölkerung hatte man an diesem Tag den Zutritt zu Berlin verwehrt. Er sammelte 1.000 Unterschriften, trotz des Mißtrauens, das ihm wegen seines SED-Abzeichens von den Luckenwaldern entgegengebracht wurde. Die Partei wartete ab. „Det waa ja 'ne heile Welt hier früha. Die ha'm uns nicht für voll jenomm'n“, fängt Wießner umstandslos an zu berlinern. Erst Wochen später, Ende Oktober, habe man ihm mit beruflichen Konsequenzen gedroht, sein Telefon sei abgehört worden. In den Betrieben hätte der FDGB gefälschte Forum-Flugblätter ausgehängt, in denen die Wiedervereinigung befürwortet wurde. Seit dem 3. November haben die Ereignisse „sich überschlagen“, wie Pfarrer Riemer es formuliert. 2.000 Luckenwalder erscheinen zur Diskussionsveranstaltung des Neuen Forums in der Jacobi-Kirche.
„Oben machen sie
auf Verhandlungen“
Dann folgt auch die Luckenwalder SED dem Beispiel aus Berlin und lädt für den 5. November zu einer öffentlichen Aussprache. 600 Menschen kommen - und sprechen sich gründlich und heftig aus. Die lokale Parteizeitung 'Märkische Volksstimme‘ erstattet zwei Tage später ausführlich Bericht, zu ausführlich vielleicht: Der Lokalredakteur wird prompt in das SED-Haus in der Dimitroffstraße zitiert und muß vor der Kreisleitung Abbitte leisten. Am gleichen Tag trifft sich der Erste Kreissekretär Jürgen Akuloff mit dem Neuen Forum. Eine Doppelstrategie? „Die haben noch immer nicht verstanden, was im Lande vorgeht. Oben machen sie auf Verhandlungen und verweigern uns gleichzeitig Räume und Zeitungen.“
Seit der kalten Dusche der Aussprache im Stadttheater läßt die Partei die Finger von Großveranstaltungen. Die Prominenz geht lieber in die Betriebe, um „das Ohr an den Massen“ zu haben, wie es Ortssekretär Knobloch ausdrücken würde. Am 13. dann eine „kleine Säuberung“: drei Sekretäre der Kreisleitung, deren Kompetenz sich nach allgemeiner Ansicht auf das Abc des Stalinismus beschränkte, wurden ausgetauscht.
Hardy Mlynikowski, noch amtierender Erster Kreissekretär der FDJ, kommt gerade aus einer Krisensitzung: „Wir werden nicht mehr die Hilfs- und Kampfreserve der SED sein, sondern eine eigenständige Interessenvertretung für alle Jugendlichen. Wir werden die Wende vollziehen“ - doch auch diese Übererfüllung des Plansolls an Wendigkeit erspart dem Jugendsekretär nicht die Abwahl. Der Absolvent der Karl-Marx -Parteihochschule wird, so sagt er, seine „Fähigkeiten Staat und Partei anbieten“, sprich: die Treppe hinauffallen. Auch die anderen geschaßten Kreissekretäre werden kaum die durch die Ausreiser gerissenen Lücken in den HOs und PGs stopfen helfen.
Slow dance
War es das also, war das die provinzielle Ausgabe der „ersten erfolgreichen deutschen Revolution“? Eine verunsicherte, doch bemühte Parteibasis, einige geschaßte Parteibonzen und eine „Masse“, die mault, aber zufrieden Mandarinen ißt? Noch immer wird in den Schaukästen des Boulevards von „249 Monaten kontinuierlicher Planerfüllung“ geprahlt, als wäre der Bilanzfälscher Günter Mittag noch im Amt. Nur einige weiße Fähnchen baumeln vor Kirche und Bahnhof und rufen zur Demonstration des Neuen Forums am Samstag. Die Luckenwalder Verhältnisse sind nicht zum Tanzen gebracht worden, oder vielleicht doch, kaum merklich, zu einem Slow?
Ein leises, zähes Ringen um Freiräume für die Opposition hat begonnen, und die Meldungen über jeden kleinen Geländegewinn werden in der Infostelle Stiftstraße, die dem Neuen Forum von der CDU überlassen worden ist, zusammengetragen. Doch die Macht klebt zäh wie Braunkohlenruß in allen Fugen der Stadt. Man tastet sich voran. Da kommt ein Ingenieur vom VEB Feuerlöschgerätebau und meldet stolz, daß er den Forum-Aufruf „direkt unter dem Schild der Betriebskampfgruppe“ aufhängen konnte. Ein symbolischer Sieg. Doch in den Betriebsversammlungen werde nur „klein-klein geredet“, werden persönliche Animositäten gegen den staatlichen Betriebsleiter auf den Tisch gepackt, um Dampf abzulassen. Aber „ohne einheitliche Linie“, klagt er. Damit könne die Partei gut leben. Nur wenige in der Firma machten sich Gedanken um die Wirtschaftsreform, überlegten, wie der VEB aus dem monopolistischen Kombinat „Nutzgerätebau“ ausscheren könnte, ohne die Investitionsfonds gestrichen zu bekommen usw. - ungelöste Fragen gibt es zuhauf.
In dem kargen Raum stapeln sich die Transparente für die Demonstration am Samstag. Ein Luckenwalder Malerbetrieb hat sie gratis hergestellt. Auf einem steht die Losung „Der Sozialismus siecht.“ „Würd ick nich machen, det kannste doch nich anbieten, det müssen die Leute selber malen“, wird eingewandt. Noch müsse man vorsichtig sein. Bisher sind erst zwei Arbeitsgruppen eingerichtet worden, Ökologie und Volksbildung. „Wir hätten uns öfter treffen sollen in den AGs“, meint Harri, Mitglied im Sprecherrat. Die Zeit ist knapp, besonders jetzt nach Öffnung der Mauer.
Ein Lehrer der Wilhelm-Pieck-Schule berichtet, daß die Schüler seiner 9. Klasse seit Einführung der neuen Reiseregelung nur noch an das nächste Wochenende denken würden und die Diskussionslust rapide abgenommen habe: „Die hören sich das an, haben aber keine Meinung.“ So ist bei den Aktivisten des Neuen Forums die Furcht groß, daß alles schon vorbei sein könnte, noch bevor es richtig angefangen hat. In den beiden anderen Luckenwalder Oberschulen haben die Direktoren beispielsweise immer noch jegliche Diskussion im Unterricht untersagt. Die Lehrer hoffen auf die neuen Schulgesetze des Nachfolgers von Margot Honecker, der gefürchteten Volksbildnerin.
„Jetzt dürfen die
Genossen denken...“
Mit seiner mitten im Sprung gebremsten Opposition und seiner taktierenden, lavierenden Partei ist Luckenwalde, die märkische Kleinstadt, ein getreues Abbild des ganzen Landes. „Die Verunsicherung in der Partei ist total. Es gibt niemanden mehr, der sagt, was wahr und was falsch ist. Jetzt dürfen die Genossen denken - und viele sind nicht mehr dazu in der Lage“, sagt jemand aus dem Apparat, der es wissen müßte. In diesem politischen Vakuum beginnt sich allerdings eine neue Macht einzurichten: die Kaste der Technokraten. Ein Musterexemplar ist Dr. Wolfgang Sperling, der Erste Sekretär im Rat des Kreises, eine Art oberster Behördenchef. Sperling, der zehn Jahre lang Kombinatsdirektor in Leipzig war, leugnet nicht, daß sich auch in Luckenwalde etwas Unwiderrufliches getan habe: „Seit vierzehn Tagen ist die SED weg. Im Rat des Kreises sitzt kein Parteisekretär mehr und paßt auf. Endlich kann ich meine Fehler alleine machen.“
Neben Sperlings Schreibtisch klingelt eines der drei Telefone. Es ist die Kreisleitung in der Dimitroffstraße, die sich nach dem Ausbleiben einer Beschlußvorlage erkundigt. „Wenden Sie sich an Herrn Soundso“, entgegnet Sperling. Ein harmloses, alltägliches Telefonat - „das mir früher das Genick gebrochen hätte“. Denn bis zur Wende war es ein ungeschriebenes Gesetz, daß man der Kreisleitung unaufgefordert jede Beschlußvorlage des Kreisrats zum Absegnen vorzulegen hatte. Jede, wohlgemerkt.
„Der Einfluß der Partei ist passe“
Befreit von den unfähigen Dogmatikern und (noch) nicht belästigt von den „Wendehälsen“, hat Sperling mit der versprochenen Verwaltungsreform bereits angefangen. Die Beamtenlöhne wurden gekürzt, und 70 offensichtlich entbehrliche Angestellte des Kreises arbeiten zur Zeit im Handel, um die durch die Ausreiser entstandenen Lücken zu füllen. Nur: Zahnärzte und Friseure finden sich schwer im Luckenwalder Behördenapparat. Noch vor Weihnachten müßten die Gesetzesentwürfe der neuen Regierung zur Wirtschaftsreform auf den Tisch, denn „je nachdem, ob selbstständige Betriebe zugelassen werden, muß ich meine Finanzbeamten organisieren, muß Preisprüfer einstellen etc.“ Ende des Monats wird ein Sonderkreistag einberufen, in dem die tatsächliche Lage „schonungslos“ aufgedeckt werden soll.
Sperling schläft schlecht in diesen Tagen, sagt er. Die viele Arbeit. Als Parteimitglied müsse er viele Beleidigungen einstecken. Aber da müsse man durch. „Die Revolution in Luckenwalde zeigt sich daran, daß der Staatsapparat sich seiner Freiheit im Verhältnis zur Partei bewußt geworden ist. Der Einfluß der Partei ist für immer passe“, meint er. Eine ernüchternde Auffassung von Revolution, die eher an Amtsstuben und Ärmelschoner denken läßt als an die Emanzipation des Citoyen. Und doch: Allein die Tatsache, daß Sätze wie diese nicht mehr nur klammheimlich gedacht, sondern laut gesagt werden, und dazu noch gegenüber einem westlichen Medium, ist revolutionär und mutig. Und vielleicht ein Vorschein auf jenen aufrechten Gang, der einem anderen Luckenwalder, Rudi Dutschke, so wichtig war, daß er die Stadt verlassen mußte.
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