Nach Polen und Ungarn jetzt die DDR

■ Überraschend greift jetzt auch die SED auf das beliebte Möbelstück des runden Tisches zurück

Was in Polen den Machtverlust der herrschenden Partei einleitete, soll jetzt auch in der DDR eingerichtet werden: der „runde Tisch“, an dem die SED, die Blockparteien, Kirche und Opposition über die Systemreform verhandeln. Doch die überraschende Zustimmung der SED scheint gut kalkuliert. Ein runder Tisch könnte die Partei wieder in die Offensive bringen; denn die oppositionellen Gruppen sind auf ernsthafte Sachverhandlungen schlecht vorbereitet.

Ein monatelanges Gezerre ging in Polen der Etablierung des runden Tisches voraus. In Ost-Berlin scheint Ähnliches weit weniger umstritten als seinerzeit in Warschau. Zwar sind die Vorbereitungen erst in den Anfängen, mögliche Verhandlungsthemen gerade mal benannt und sowohl die Zusammensetzung als auch die Entscheidungskompetenz des Gremiums offen; doch immerhin besteht bereits prinzipieller Konsens, daß etwa die anstehende Wahlrechtsreform nicht mehr allein Sache der Volkskammer - oder gar wie bisher der Partei - ist. Alle politisch relevanten Kräfte haben bereits ihre Bereitschaft erklärt, am runden Tisch Platz zu nehmen.

Dabei kam das O.K. von Parteichef Egon Krenz, das er während einer Betriebsbesichtigung bei Bergmann-Borsig verkündete, eher überraschend. Weder ging eine kontroverse Debatte voraus, noch hatte die Opposition in den letzten Wochen die Einrichtung eines Verhandlungsgremiums außerhalb der bestehenden Institutionen zu ihrer zentralen Forderung erhoben. Auch im bisherigen Reformkonzept der Partei war von einem runden Tisch nicht die Rede. Verständlich - assoziiert man doch seit dem Umbruch in Polen den runden Tisch mit dem schrittweisen Machtverlust der Partei. Konsequenterweise setzte die SED deshalb bisher auf die Reform bereits vorhandener Strukturen: Unabhängigkeit der Regierung von Parteidirektiven und eine gestärkte Volkskammer.

Offenbar findet die SED mittlerweile Geschmack an der Rolle, die sie bislang zwar stets für sich beanspruchte, aber nie ausfüllen konnte - an der Spitze der Bewegung zu stehen. Nach der überraschenden Reisefreiheit gehen die Massendemonstrationen zwar weiter, doch die Opposition präsentiert sich seit der Grenzöffnung weitgehend orientierungslos.

Auch der Reformdruck aus der Parteibasis zielte bislang eher auf die inhaltliche und personelle Aufarbeitung der bisherigen Politik, auf die demokratische Legitimation der Führung und die Demokratisierung der Gesellschaft. Dabei spielte auch die Legalisierung unabhängiger Gruppen eine Rolle; doch ihre direkte Einbeziehung in Verhandlungen über die zentralen Reformprojekte stand nicht auf der Prioritätenliste der Parteibasis.

Reformschub

Wenn das Politbüro jetzt - in „Fortschreibung“ des eigenen Aktionsprogramms, wie die offizielle Formulierung lautet den runden Tisch auf den Weg bringt, bedeutet das einen weiteren Reformschub. Denn Konsens waren bislang zwar die einzelnen Reformpunkte - von der Verfassungsänderung über die Wahlrechtsreform bis zum Mediengesetz; aber die Beteiligung der Opposition blieb umstritten. Bislang ist nicht einmal die Legalisierung der Gruppen durchgesetzt, die jetzt von Krenz als zukünftige Ver handlungspartner ins Spiel ge bracht werden.

Das Krenz-Angebot zielt offensichtlich auf gesellschaftlichen Legitimationsgewinn. Nichts kann der umstrittene Parteichef vor dem Dezember-Parteitag, der über seine politische Zukunft entscheidet, besser gebrauchen als ein weiteres überraschendes Signal seiner Reformbereitschaft und der Flexibilität seiner Partei. Der runde Tisch ist ein solches Signal; daß die Verfassungsreform ausdrücklich als Verhandlungsthema benannt ist, deutet zugleich darauf hin, daß auch die Parteiführung die Hoffnung aufgegeben hat, ihren verfassungsmäßigen Führungsanspruch über die Wende zu retten.

Daß die gesellschaftliche Mobilisierung bislang auch die neue Reisefreiheit überdauert hat, dürfte ein wesentlicher Beweggrund für das Vorpreschen zum runden Tisch sein. Versuchte die Partei mit ihrem anfänglichen unverbindlichen Dialogangebot vergeblich, den demonstrativen Unmut der Bevölkerung einzudämmen, so hofft sie jetzt, die Konflikte am runden Tisch zu kanalisieren und das Volk zu befrieden. Gleichzeitig könnte sie mit Recht darauf hoffen, daß die Bereitschaft der BürgerInnen, unpopuläre Maßnahmen im Zuge der ökonomischen Reform hinzunehmen, wenn überhaupt, nur dann besteht, wenn sie sich zugleich im zentralen Verhandlungsgremium vertreten wissen.

Hier beginnt das Problem der Opposition. Für welchen Teil der Bevölkerung die unterschiedlichen Gruppen sprechen können und welche programmatischen Vorstellungen sie einbringen werden, bleibt ebenso umstritten wie die Frage, wer aus dem Kreis möglicher Kandidaten am runden Tisch Platz nehmen könnte. Der desolate Zustand der Opposition, der spätestens seit der Öffnung der Mauer offensichtlich ist, könnte der eigentliche Grund für den unerwarteten SED -Vorschlag sein. Zwar haben alle Gruppen seit ihrer Gründung vom runden Tisch, an dem sie gleichberechtigt teilnehmen können, geträumt. Doch eine koordinierte Verhandlungsstrategie der Opposition ist nicht in Sicht.

Der vehemente Umbruch der letzten Wochen hat die internen Meinungsverschiedenheiten und die unzureichenden Strukturen eher verdeckt. Das Neue Forum etwa, die breiteste oppositionelle Bewegung, verfügt auch zwei Monate nach seiner Gründung noch immer nicht über einen legitimierten Sprecherrat. Die inhaltlichen Reformvorstellungen sind breit gefächert, aber in keinem Punkt klar ausgearbeitet. Wohin man sich entwickeln will, zur regional verankerten Bürgerinitiative oder zur landesweit agierenden Partei, ist heftig umstritten.

Die kleineren Gruppierungen haben zwar zum Teil klarere Strukturen; doch Zielvorstellungen, aus denen sich schnell eine konsistente Verhandlungsplattform entwickeln ließe, fehlen auch hier. An diesen Defiziten setzt das Kalkül der SED an. Eine schwache Opposition läßt sich möglicherweise vereinnahmen. Wo sie sich dagegen sträubt, ohne zugleich überzeugende Alternativen präsentieren zu können, diskreditiert sie sich vor den BürgerInnen, die sie doch vertreten will.

Diese Gefahr sieht auch die DDR-Opposition. Ihre Angst vor allzuschnellen Wahlen ist dafür ein Symptom. Seit Mittwoch gibt es neuen Grund zur oppositionellen Beunruhigung: der „runde Tisch“.

Matthias Geis