Gorod Zero

■ Räuberpistolen aus Leningrad, der Stadt der Gegensätze und tausend Gesichter

Frank Nordhausen GOROD ZERO

Räuberpistolen aus Leningrad, der Stadt der Gegensätze und tausend Gesichter

Gegen zehn Uhr morgens bewegt sich unser Zug bei schönstem Sonnenwetter langsam in den Bahnhof der Fünf-Millionen -Metropole Leningrad. Der Schaffner schüttelt uns feierlich die Hände und küßt uns zum Abschied die Wangen. Wir hatten ihn in Moskau mit einigen Dollars dazu bewegen können, uns trotz angeblich überfüllter Abteile noch mitzunehmen.

Erstaunt registrieren wir, daß in der Bahnhofshalle eine riesige Leninbüste thront, die der nämlichen Statue im Moskauer Westbahnhof aufs Haar gleicht. Sind wir im Kreis gefahren oder einem subtilen sowjetischen Witz aufgesessen? Keins von beiden: Die Ähnlichkeiten der Bahnhöfe, Revolutionsdenkmäler und Straßennamen nutzte kürzlich sogar ein Filmregisseur für eine Komödie über die Wiederkehr des Immergleichen im großen Sowjetland.

Wenn Lenin als Patron der Stadt der klassizistischen Paläste und stimmungsvoll-fotogenen Kanäle auch allgegenwärtig scheint, als Wegweiser hat er's heute schwer. Lenin, mit oder ohne Kappe in der Hand, steht als ehernes Monument einer vergangenen Zukunft im Gegensatz zum Strom der Realität in dieser Stadt der Gegensätze und tausend Gesichter.

Zum Beispiel dem Gegensatz von öffentlichem und privatem Dasein. Muffelig, verschlossen, aggressiv wirken die meisten Menschen bei Tage und bei offiziellem Tun; eine Metrofahrt aus der Vorstadt am frühen Morgen ist ein Horrortrip durch leere und hoffnungslose Gesichtslandschaften. Während der Arbeit bewegen sich viele wie zu langsam eingestellte Roboter, in Zeitlupe. Wie groß die wartende Schlange auch sein mag, es kümmert die VerkäuferInnen nicht: Bedächtig verpacken sie, bedächtig schieben sie am Rechenschieber, und wenn sie nichts verstehen (wollen), versteinern ihre Mienen bedächtig zu einem Eisblock.

Um so verblüffender dann die Wandlung im Privaten. Wir wohnen drei Wochen bei Freunden nicht weit vom Newskij -Prospekt, der prachtvollen Hauptstraße Leningrads. Uns umgibt eine ungemein herzliche Atmosphäre; wir tauchen ein in ein Geflecht brüderlicher (oder schwesterlicher) sozialer Beziehungen. Zentraler Ort der Kommunikation ist die Küche. In den russischen Küchen hat eine Begegnungs- und Volkskultur überlebt, die aus Freundschaft und vitaler mündlicher Tradition existiert. Je mehr wir hier Einlaß finden, desto länger werden unsere Abende, verschlafen wir die halben Tage. Wir entdecken die faszinierende Welt der Leningrader Nächte, ziehen von Küche zu Küche. Wir reden, deklamieren Gedichte, trinken, singen, und immer wieder diskutieren wir über unsere Erfahrungen im Sowjetreich.

Etwa über die städtebauliche Schönheit Leningrads, die sorgfältige Restaurierung der Baudenkmäler, die außergewöhnliche, an Venedig erinnernde Atmosphäre der Kanäle und über 700 Brücken, die Kunstschätze und aufsehenerregenden, ja einzigartigen kulturellen Darbietungen. Prostitution

Aber auch über Fort- und Rückschritte der Perestroika. Zum Beispiel die Kriminalität, die Banden und die Mafia. Jelena zeigt mir bei einem Spaziergang über den nächtlichen Newskij -Prospekt einen jeder-mann bekannten Platz, an dem Prostituierte zu haben sind. Aus einiger Entfernung beobachten wir das Geschehen. Männer lungern herum, offenbar Zuhälter. Erscheint ein Freier, so wird mit ihm zunächst auf der Straße verhandelt. Dann führt man ihn an verschiedenen Autos vorbei, in denen, wie ich bald bemerke, Frauen warten. Der Freier trifft seine Wahl und verschwindet mit einem Mädchen. Das ist nicht ungefährlich. Am nächsten Tag übersetzt mir Jelena einen Zeitungsartikel, in dem von brutalen Überfällen auf Freier die Rede ist, von Raub und sogar Mord. Prostitution, die es laut Gesetz in der Sowjetunion überhaupt nicht gibt, blüht aber nicht nur offen auf der Straße, sondern stärker noch im Schatten der Hotelbars und -restaurants, in denen Ausländer verkehren. Wir hören, daß es nur noch wenige „Freischaffende“ gibt; das gesamte Geschäft liege fest in den Händen der grusinischen Mafia.

Die Mafia... Wie oft hören wir dieses Wort während unseres Aufenthaltes. Da unsere Gastgeber es darauf angelegt haben, uns auch die versteckten Seiten des Sozialismus vorzuführen, wollen wir einen Abend in einem Restaurant verbringen, das angeblich der Mafia gehört. Unter Zahlung eines ungewöhnlich hohen „Eintrittsgeldes“ gelingt es uns, Einlaß zu finden. Im plüschig-rot gedämpften Halbdunkel drehen sich einige Paare auf der Tanzfläche zu den Klängen einer Schrammelkapelle. Serviert werden Krimsekt und Spezialitäten, die wir sonst nie zu Gesicht bekommen. Während an unserem Tisch die neureiche Jugend einen Geburtstag feiert, macht uns Aljoscha auf die Ehrenwerte Gesellschaft am Nebentisch aufmerksam. Fünf Herren, zum Teil mit Sonnenbrillen ausstaffiert und ausgesprochen gut angezogen, vertiefen sich in wichtige und ernste Gespräche, während sie Oliven oder Kaviarschnittchen goutieren. Sie agieren wie Komparsen aus Coppalas Godfather. Wenn sie sich zurücklehnen, beulen sich ihre Jacken aus und zuweilen wird ein Revolverlauf sichtbar. Aljoscha erzählt, wie er vor einiger Zeit im nämlichen Lokal eine Razzia erlebte, welche die Armee, die Kalaschnikow im Anschlag, durchführte: Als sich alle männlichen Anwesenden mit ausgebreiteten Armen an die Wand stellen mußten, habe sich der Fußboden in Sekundenschnelle mit einem zentimeterhohen Teppich aus westlichen Banknoten bedeckt. Prohibition

Ein Kristallisationspunkt mafioser Erfolge, so hört man, sei ausgerechnet die von Gorbatschow verfügte Prohibition gewesen; seitdem habe sich die Mafia - ähnlich der Al-Capone -Ära in den USA - in unerhörtem Tempo etabliert. Das leuchtet ein: Um die täglich erlaubte Menge Alkohol zu kaufen - das sind drei Flaschen Wein oder eine Flasche Cognac (bzw. Wodka, wenn vorhanden) -, muß man in den staatlichen Läden etwa drei Stunden Schlange stehen; auf dem Schwarzmarkt hingegen läßt sich der Alkohol problemlos und in beliebigen Mengen beschaffen. Wir hätten selbst um vier Uhr nachts ohne Schwierigkeiten Wein kaufen können.

Aber obwohl Gorbatschow der Mafia den Krieg erklärte und spezielle Einheiten der Miliz und des KGB mit zum Teil spektakulären Erfolgen dem Gangstertum einen erbitterten Kampf liefern, hat sich die Mafia mittlerweile gut organisiert und sich quasi die gesamte Skala krimineller Betätigungsfelder erschlossen, vom Rauschgifthandel über die Prostitution, das Schwarztauschen bis zum Verschieben westlicher Technologieprodukte. Ungeheure Summen werden hier verdient. Ihr größtes Problem scheinen untereinander rivalisierende Gruppen zu sein. Kurz vor unserer Ankunft in Leningrad wurde ein Gangster am hellichten Tag auf dem Newskij-Prospekt ermordet und in einen Kanal geworfen. Die Täter sind unbekannt. Glaubt man den russischen Zeitungen, so wird der Preis eines Menschenlebens momentan mit 500 Rubeln taxiert (nach Schwarzmarktkurs etwa 100 DM), und Killer finden sich. Begabte Kriminalautoren könnten hier Schätze heben. Die Stoffe liegen sozusagen offen auf der Straße. Doch noch scheint der russische Chandler nicht geboren. Schattenwirtschaft

Natürlich leistet der Mafia bei ihrem Tun das gesamte unheilvolle System der Schattenwirtschaft Vorschub, gegen das trotz Glasnost und Perestroika noch kein Gras gewachsen ist. Aus gutem Grund lautet Aljoschas Wahlspruch: „Hundert gute Freunde sind hundertmal mehr wert als hundert Rubel.“ Ohne jegliche Übertreibung läßt sich feststellen, daß auf dunklen Wegen und über die Hintertreppe buchstäblich alles organisiert werden kann. Sind Ballett und Theater ausverkauft oder das Restaurant nur mit zweiwöchiger Wartefrist zu betreten - ein, zwei oder drei Telefonanrufe schaffen Abhilfe. In der Erimitage, wo sich normale Sterbliche mehrere Stunden die Beine in den Bauch stehen müssen, bis sie Eintrittskarten ergattern, verschafft uns der informelle „Markt der Freundschaft“ unverzüglich Einlaß. Was immer man wünscht: algerischen Wein, Kaviar, usbekisches Gras - kein Problem. Diafilme, Westzigaretten, Wodka, ein Filetsteak - alles möglich. Eine Wohnung im Zentrum? Für hundert Rubel monatlich kein Problem.

Die Korruption hat das gesamte Leben erfolgreich durchsetzt. Ein neues Gebiß, auf das der Patient im normalen Amtsweg zwei bis drei Jahre warten muß, läßt sich für ein Schmiergeld von 200 Rubeln, etwa einem Monatslohn, sofort bekommen. Ungläubig vernehmen wir, daß selbst richterliche Entscheidungen mit dem entsprechenden Kleingeld oder gar Sex beeinflußt werden können. Da erscheint es nur logisch, daß sich auch einige scheinbar unterbezahlte Verkehrspolizisten nach Gusto bedienen und Bußgelder einstecken, die sie nicht einmal besonders phantasievoll begründen.

Nur die, die keine Freunde haben, kein Busineß neben ihrem offiziellen Job betreiben, die gar auf dem Land wohnen und dort als Rentner von 30 Rubeln im Monat leben müssen, sie haben - wie überall - das Nachsehen.

Gorod Zero, Stadt Null, heißt daher nicht ohne Hintersinn eine neue sowjetische Filmproduktion, die den Zustand des Nichts-geht-mehr-nirgendwohin komödiantisch und sarkastisch aufs Korn nimmt. Gorod Zero, das ist der verkrustete Sowjetstaat, wo ein Gast im Restaurant schon einer zuviel ist, wo der Taxifahrer sich seine Fahrgäste aussucht (und nicht umgekehrt) und wo eine kleine verschworene Clique von Mächtigen über die Macht verfügt, nach Gusto die Geschichte umzuschreiben oder über jedermanns Identität zu bestimmen. Aus Gorod Zero fährt kein Zug mehr, ein Bahnhofsvorstand existiert nicht, nur eine unsichtbare, aber gleichwohl undurchdringliche Mauer umgibt den absurden Ort. Rette sich, wer kann, egal wohin, lautet die Moral des erstaunlichen Streifens. Alkohol

Wir beginnen zu verstehen, warum sich unsere FreundInnen so oft in den Alkohol retten; und wir retten uns mit. Nach und nach begreifen wir in den langen Nächten, wie anachronistisch unsere diffuse Revolutionsromantik in dieser Realität wirkt. Wenn man erlebt, daß siebzig Jahre nach der Oktoberrevolution noch nicht einmal die Versorgung mit Lebensmitteln richtig funktioniert, das Leitungswasser salmonellenverseucht ist, wenn die industriellen Standards aus den zwanziger und dreißiger Jahren zu stammen scheinen, wenn tagtäglich neue Details aus dem Gruselkabinett Josef Stalins bekannt werden und die „working class“ im Volksmund zur „drinking class“ verkommen ist, dann liegt es auf der Hand, daß der Kommunismus im Bewußtsein der Menschen einen schweren Stand hat. Und Gorbatschow, die Perestroika? Naja, der Generalsekretär sei schon auf dem richtigen Weg, ein guter und kluger Mensch, aber er habe es wie Sisyphus mit übermächtigen Problemen zu tun. Die Versorgungslage habe sich in den letzten Jahren noch verschlechtert, die Korruption verschlimmert und die Bürokraten säßen alle noch auf ihren Sesseln. Immerhin kann man nun Orwells Animal Farm und 1984, Pasternaks Doktor Schiwago und Solschenizyns Archipel Gulag lesen, aber - so würde Brecht wohl sagen - „das schafft noch kein Fressen her“. Nur mit einer rascheren, umfassenden Demokratisierung der politischen und ökonomischen Strukturen sei es möglich, den Sozialismus aus dem Ruch des Stalinismus zu befreien und zugleich Schwarzmarkt wie organisiertes Verbrechen einzudämmen.

Natürlich lieben die Leute bei aller demonstrativ -provozierend vorgetragenen „no future„-Mentalität ihre Stadt. Mit einem gewichtigen Einwand: Leningrad habe ein schönes Gesicht, aber ein gebrochenes Herz, bemerkt Aljoscha.

Als vom finnischen Meerbusen heranziehende Regengüsse den Herbst einleiten, beschließen wir, die schöne Stadt zu verlassen. Doch ausgerechnet jetzt - und keinesfalls zufällig - versagen plötzlich alle Beziehungen: Es gelingt uns nicht, Flug- oder Eisenbahnkarten für Rubel zu erwerben. Als Aljoscha daraufhin am offiziellen Schalter Tickets für uns zu kaufen versucht, bekommt er die für dieses Ansinnen treffende Antwort: „Wenn deine Freunde nicht in Bundesmark bezahlen können, behalt sie doch in deiner Wohnung, bis sie verrecken...“

Wollen wir uns auf dieses Abenteuer nicht einlassen, so bleibt uns nur ein Weg. Irgendwann stehen wir auf dem Bahnsteig, fragen nach dem Chef des Zuges nach Berlin, verschwinden mit ihm im Schaffnerabteil und einigen uns über den Fahrpreis. Bei der Ankunft in Ost-Berlin wird uns der Chef zum Zeichen seiner Dankbarkeit auf die Wangen küssen...