SED wählen!

■ Der in Ost-Berlin lebende Autor über die veränderte Situation nicht nur in der DDR

Wenn man in diesen Tagen über die DDR schreibt, scheint es ratsam, die Perspektive auf die der Tageszeitungen zu verkürzen. Schon die Prognosen für einen Monat würden wohl von den Gegebenheiten überholt. Es ist, als schriebe man auf brennendes Papier. Doch ich war über meine Irrtümer nie so erfreut wie in den letzten Wochen. Inzwischen wird es immer schwerer, der Führung noch etwas abzuverlangen; auch die Forderungen bleiben mitunter hinter den Zugeständnissen zurück: Freie Wahlen, die dann auch den quasi schon aufgegebenen Führungsanspruch klären würden, verschöben auch die Oppositionsgruppen besser auf später, und es scheint beinahe alles, was man derzeit noch fordern könnte, liefe wohl oder übel nur noch auf die Wiedervereinigung hinaus. Mißtrauisch macht nur, daß es nun anscheinend niemanden mehr gibt, der wie eh und je nichts von Reformen hält: erst dann wäre der Dialog ja komplett.

Als einer, der sich keiner Gesinnung verpflichtet fühlt, kann ich mir erlauben zu sagen, daß ich derzeit wahrscheinlich SED wählen würde, und zwar nicht nur, weil ich Minderheiten immer unterstützt habe, sondern auch, weil ich keine Vereinigung kenne, die kompetent genug wäre, an deren Stelle zu treten. Ich kann mit der führenden Rolle der SED vorerst leben, bevor sich ein anderer blamiert schließlich ist sie derart in Zugzwang und Legitimationsnot, daß sie dem Druck von unten nachgeben muß, (obwohl ich auch denke, daß man das wirksame Mittel der Demonstrationen nun nicht inflationieren, sondern sich zur Mahnung vorbehalten sollte). Die Forderungen der Straße aber scheinen mir reichlich konfus: Man kann keinen staatlichen, künstlichen Umtauschkurs verlangen, und andererseits die Entzerrung des Marktes wollen. Man kann nicht den westlichen Warensegen herbeiwünschen, und gleichzeitig auf den Erhalt der Subventionsgewohnheiten bestehen. Das alles klingt wie: wasch mich, aber mach mich nicht naß. Die sozialen Bequemlichkeiten der DDR können natürlich nur durch einen völlig unausgehandelten Kompromiß mit den Vitalitäten des Marktes vereint werden, und ich habe von den Oppositionsvereinen außer ein paar Zwischenrufen hierzu noch nichts vernommen, was darauf schließen ließe, wie sie dieses Paradox lösen wollen. Allerdings wäre ein marktwirtschaftlicher Sozialismus auch nicht weniger widersprüchlich als es die soziale Marktwirtschaft ist.

Der Bedürfnisbefriedigungszwang, in dem sich die jetzige Regierung befindet, aber scheint zu erfordern, daß das Geld künftig eine viel größere Rolle spielen wird als bisher, und gerade das macht befürchten, daß die kulturelle Eigenart dieses Landes der westlichen gänzlich zum Opfer fällt, schon deshalb, weil der DDR-Bürger nach den Jahren der Entbehrung für die Suggestionen des westlichen Warenuniversums besonders anfällig ist. Wie mancher sich dort jetzt zum Konsumtrottel erniedrigt, ist mir schlicht peinlich, (und ich sage dies hier, weil es sich dem westlichen Journalismus in der jetzigen öffentlichen Verbrüderungsstimmung wohl verbieten würde, sich über einen DDR-Bürger lustig zu machen).

Der Widerspruch zwischen dem produktiven Intentionen und den realen Spasmen des Sozialismus scheint unlösbar, und auch die außerparlamentarischen Protestgruppen werden ihn, denke ich, auf Dauer nicht lösen können, ohne sich dabei selbst zu spalten.

Ich habe mich oft gefragt, ob die Linken im Westen überhaupt wissen, wovon sie sprechen, wenn dort vom Sozialismus die Rede war: Gerade jene hätten die Repressionen am wenigsten ertragen können, die seiner Existenz zugrunde liegen, und die sich, wie die Praxis nicht anders bewiesen hat, nicht auf bestimmte Werte eingrenzen lassen - nicht etwa, weil es der falsche Sozialismus war, der hier geprobt wurde, sondern weil es in der Natur der Sache liegt, daß alle ideellen Korrekturen sich gegen das selbstoptimierende Prinzip des Systems richten und eine administrative Lenkung erzwingen. Scheinbar haben die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, die der Marxismus entdeckt zu haben glaubte, nur bis zu jenem Tage funktioniert, an dem er selbst zur Staatsform wurde. Von da an entwickelte sich die Gesellschaft plötzlich nicht mehr aus sich heraus, sondern nach den Wünschen und dem Dafürhalten des jeweils Machthabenden. Es muß wohl immer ein Golem werden, was man nach Gottes Gesetzen baut.

Die sozialen, alternativen und ökologischen Utopien des Westens sind ein Luxus, den dieser sich nur dank seines Reichtums hat leisten können. Ein bestimmtes Niveau des Besitzes ist quasi die historische Voraussetzung des Verzichts, der hierzulande wohl noch eine ganze Weile auf sich warten lassen wird, bis er freiwillig geleistet und nicht als Repression empfunden wird.

Freilich: sich selbst optimieren kann der Kapitalismus am besten, er ist, wie Lyotard sagt, ein Energieteufel, und es ist noch nichts Besseres erfunden. Jedes soziale oder ökologische Regulativ senkt dessen Rentabilität, und setzt eine mehr oder weniger freiwillige Bescheidung des Lebensstandards voraus, wenn dafür andere Vorzüge spürbar werden. Wenn aber der Kommunismus, der jetzt nicht mehr repressiv, sondern unter den Zwängen des freien Wettbewerbs mehr und mehr zu seinen eigenen Idealen in Widerspruch gerät, den Leuten etwas bieten will, was man ohne ihn leichter haben könnte, wird er wie in Ungarn, fürchte ich, unausweichlich auf die rigorosesten Methoden der Selbstausbeutung zurückfallen, wie es die einzig profitablen, staatsgeheimen Valutafirmen, die im Westen zu Billigpreisen bauen oder mit Schnaps und Antiquitäten handeln, schon immer taten, ohne sich irgendeiner kartellrechtlichen oder gewerkschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen. Dann plötzlich geht es kapitalistischer zu als im Kapitalismus.

Auch, weil der Marxismus sich von der westeuropäischen Linken, von deren Theorien und alternativen Konzepten der kollektiven Selbstverwaltung in der Vergangenheit gänzlich abgekoppelt hat, fehlt ihm heute jedwede Phantasie für dritte Wege; und so steht zu befürchten, wird es letztlich eher die Entscheidung des Kapitals sein, ob es eine Wiedervereinigung gibt oder nicht. Sie wird deshalb eher durch ökonomische Zwänge als durch politische Gruppierungen heraufbeschworen, denn wer immer in der DDR einen Machtanspruch erhebt - und das läßt vielleicht hoffen würde ihn durch eine Wiedervereinigung ja aus den Händen geben.

19.11.89

Rainer Schedlinski