: Wird Westberlin eine sozialistische Stadt?
■ Gedanken eines osteuropäischen Reaktionärs
Sonja Margolina Alte Ängste werden lebendig
Für jemanden, der wie auch immer aus Osteuropa nach Westberlin oder Westdeutschland gekommen ist, ist dieses Land nicht einfach ein Ort, wo er politisches Asyl, eine neue wirtschaftliche Existenz oder einen Ehepartner gefunden hat. Der Ausländer ist hier nicht nur ein Fremder, der er beispielsweise auch in Frankreich ist. Er lebt in einem Land, in dem etwas geschehen ist. Wenn nicht ihm persönlich, dann seinen Großeltern, und wenn nicht seinen Großeltern, dann Angehörigen, und wenn nicht seinen Angehörigen, dann seinen Stammesgenossen und Landsleuten. Er hat das gutmütige Gesicht eines sympathischen jungen Mannes mit kurz geschorenem Haar vor sich - und plötzlich sieht er ihn, ob er will oder nicht, in der Uniform der SS. Das ist natürlich verrückt, eine Sinnestäuschung, aber im Unterbewußtsein des Osteuropäers existiert sie, jedenfalls bei den über 35jährigen. Der Verstand kommt dagegen nicht an, auch die Bilder der antifaschistischen Propaganda und der Kriegsfilme haben ihre Spur hinterlassen. Die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen und die Routine, in der es geschah, steigt ins Bewußtsein auf. Der Osteuropäer reagiert auf Schlüsselwörter wie Gesamtdeutschland, Wiedervereinigung, deutsches Volk mit Anfällen von Angst. Es ist nicht so, daß der Osteuropäer heute fürchtet, daß jemand verlorenes Land zurückerobern möchte. Er fürchtet vielmehr jenes irrationale Überlegenheitsgefühl der Rasse, das im deutschen Nationalismus immer gegenwärtig ist. Es war stillgestellt durch wirtschaftlichen Wohlstand und die internationale Situation. Es kann wieder explodieren, wenn der traditionelle deutsche Chauvinismus, der sich unter der Hülle des Sozialismus konserviert hat und nur darauf wartet, bis seine Zeit gekommen ist, zusammengeht mit der „Wiedergeburt“ der deutschen Nation. Ich gebe zu: das ist alles Phantasie. Die Deutschen sind schon nicht mehr die, die sie waren, und die Geschichte wiederholt sich nicht. Und wir nicken zustimmend: ja, sie wiederholt sich nicht. Doch Angst macht uns nicht das, was schon hinter uns liegt, sondern das Neue, das vor uns liegt, das wir noch nicht kennen.
In der Mehrheit sind die Osteuropäer autoritätsgläubig und konservativ. Sie haben es schwer, sich an den Westen zu gewöhnen. Sie schimpfen auf ihre Gastländer und wiederholen dabei in ihren Urteilen oft die Stereotypen, die sie sich im Zuge der sozialistischen Propaganda zueigen gemacht haben. Sie legen sich nicht gern Rechenschaft ab über die Ursachen ihres harten Urteils, und sie gestehen sich nur ungern ein, daß sie die Schuldgefühle ihrer Gastgeber ausnutzen und einen gewissen Nutzen aus dem schlechten Gewissen der Deutschen ziehen.
Die Osteuropäer lieben ihr unglückliches Vaterland, in dem sie nicht nur ihre Lieben, sondern auch ihr eigenes „Ich“ und ihre Nische zurückgelassen haben; und wo letzten Endes, wie immer wieder vorgebracht wird, alles ganz großartig war, auch wenn man es dort nicht mehr aushielt. Die Objektivität der Mauer
Westberlin ist eine der freiesten Städte der Welt. Wie in jeder anderen großen europäischen Metropole leben hier viele Ausländer, es gibt gemischte Ehen und eine unwahrscheinlich bunte Mischung der verschiedensten Kulturen. Für den Ankömmling war die Mauer ein starker Schock. Viele, die sich aus ihren Staaten mit den absolut undurchlässigen Grenzen davon gemacht haben, haben erst hier verstanden, was eigentlich mit Europa nach dem Krieg geschehen ist, was das ist - die Grenze zwischen den beiden Systemen. Die Berliner Klaustrophobie, das Gefühl, in einer Zone und in einem goldenen Käfig zu leben, drückte auf die Schläfen. Die kleine und ganz und gar nicht schreckliche und über und über bemalte Mauer trennte zwei Gegenwelten und war ein lebendiges Lehrstück, das zwei verschiedene gesellschaftliche Systeme nicht miteinander koexistieren konnten. Wenn man über Check Point Charlie ging, dann war man fast wieder zuhause: die monotonnen Reihen der grauen Wohnblocks erinnerten an die Moskauer Neubauviertel, der Fernsehturm glich dem von Ostankino wie ein Ei dem anderen, und über das unebene Pflaster der Trottoirs rannte genau die gleiche graue Menschenmasse. Der dampfende Bus spie Ladungen finster dreinblickender Passagiere aus, kleine debile Automobilchen verbreiteten einen unbeschreiblich widerwärtigen Gestank, der den Gestank aller anderen osteuropäischen Benzinsorten weit in den Schatten stellte.
In Ostberlin haben immer die Beine wehgetan, weil die Stadt wie alle nach Plan gebauten „sowjetischen“ Städte den Menschen vergessen hatte. Der Osteuropäer, der das fremde Land kennengelernt hatte, kehrte, nachdem er die unendlichen Viertel durchmessen und um die wundersamen Geschöpfe der sozialistischen Architektur herumgegangen war, wieder gern zurück in seinen bequemen Käfig hinter der Mauer. Es schien, als sei der Käfig für die Ewigkeit gebaut. Doch der 9.November hat die Insel Westberlin zum Verschwinden gebracht. Viele von denen, die die Teilung der Stadt mit eigenen Augen erlebt, lange Jahre gewartet und voneinander geträumt haben, sind sich in die Arme gefallen und haben Tränen der Freude vergossen. Die Liebe über große Entfernungen hin ist stark. Solveig hat 40 Jahre auf ihren Peer Gynt gewartet, aber wer weiß, wie es mit ihnen ausgegangen wäre, wenn sie Seite an Seite mit dem Weiberhelden gelebt hätte.
In der Euphorie der Ereignisse hat kaum jemand daran gedacht, was es eigentlich bedeutet: ohne Mauer zu leben. Wenn Zweifel aufkamen, dann gingen sie im Getöse der Volksfestkanonade unter. Alle hatten doch auf das große Ereignis gewartet: Prosit, Prosit! Osteuropäische Verhältnisse
Und jetzt hat sich die Stadt, die so wenig bevölkert und leer und so praktisch und bequem war, mit den Farben und Gerüchen jener Welt gefüllt, die die Emigranten dann und wann aufsuchten, um sich von ihrem Heimweh zu kurieren. Die Menschen, die jetzt kamen, sahen nicht nach einer wilden Horde aus, sondern blieben ruhig und zurückhaltend, fast als ob sie fürchteten, die Ordnung in einem fremden Hause zu stören. Die langen Schlangen vor der Bank, die Invasion der Kaufhäuser, die Berge von Müll - das sind ganz unausweichliche Begleiterscheinungen, wenn sich die Bevölkerung einer Stadt mit einem Schlag verdoppelt. Wenn die Westberliner mit einigen Unbequemlichkeiten fertig werden mußten, dann natürlich nur vorübergehend, und irgendwann wird es sich verlaufen. Wenn die Auspuffgase der ostdeutschen Straßenkreuzer die kostspieligen ökologschen Maßnahmen ad absurdum geführt haben - was sollte man tun, wo sie doch keine anderen Autos hatten. Jedenfalls war der Durchschnittsbürger optimistisch: Westberlin bleibt eine selbständige freie Stadt, es wird nur offener, und mit den vorübergehenden Schwierigkeiten, die dabei entstanden sind, wird ein effektives kapitalistisches System schon fertig.
Doch das Auge eines Menschen aus Osteuropa sieht das heutige Problem Westberlins etwas anders. Die Menschen, die über die Mauer gekommen sind, sind nicht nur Berliner, sie repräsentieren einen bestimmten Stil, einen bestimmten Typus von Verhältnissen. Dieser Typus hat nichts zu tun mit der Nationalität, er ist über die Länder des ganzen Ostblocks verbreitet und unterscheidet sich in seiner Ausprägung lediglich dem Intensitätsgrad nach. Beispielsweise gab es bei der Verteilung von kostenlosen Tüten mit der Aufschrift „Marlboro“ auf dem Kurfürstendamm Gedränge. In Moskau wäre so etwas ohne Tote wahrscheinlich nicht abgegangen.
Die Aggressivität, der allgegenwärtige und ständige Begleiter im sozialistischen Alltag, drückt sich in verschiedenen Formen aus: sie kann ziemlich kultiviert sein, sich auf Intonation oder Gesten beschränken oder eine nationalistische oder sogar sexistische Färbung annehmen. Im Alltagsleben der sozialistischen Stadt erzeugen die Probleme des öffentlichen Nahverkehrs, die Schlange vor den Geschäften, die Unfähigkeit, Konflikte zu schlichten, einen spezifischen Verhaltensdarwinismus, der die Form von Reflexen annimmt. Sozialistische Verhältnisse - das sind immer die Beziehungen von Menschengruppen in der Mangelsituation.
Derjenige, der rücksichtslosen Gebrauch von seinen Ellbogen macht, bekommt, was er will - sei es der Sitzplatz im Bus oder die defizitäre Banane. Unter solchen Verhältnissen droht das Gefühl für die eigene persönliche Würde verloren zu gehen, das Bewußtsein der eigenen Autonomie ist etwas, was man für zu Hause und für das Gespräch mit den Freunden reserviert. Viele Osteuropäer, die in den Westen kommen, reproduzieren noch lange diese in langen Jahren geprägten Verhaltensmuster des Alltags, auch dann, wenn für sie keine Notwendigkeit mehr besteht. So sah ich zufällig, wie sowjetische Juden im Transitlager Ladispoli bei Rom eine Schlange bildeten, obwohl es keinen Grund dafür gab. Ich selbst werde unruhig, wenn ein Zug herannaht und der Reflex, unbedingt einen freien Sitzplatz ergattern zu müssen, zu arbeiten beginnt. Es fällt mir auch schwer, mich dem Westberliner Schlangestehen anzupassen; unwillkürlich drängle ich, um in Erfahrung zu bringen, ob es von der Wurst noch etwas gibt oder nicht. Dort kümmert man sich um solche Reflexe, die komisch anmuten und natürlich normale Leute ärgern, schon lange nicht mehr. Sie bewirken nichts und ändern nichts. Eine andere Sache ist es aber, wenn derartige Reflexe plötzlich millionenfach in einer westlichen Stadt auftauchen. Zwei Typen der Zivilisation
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß dem aus dem Osten Ankommenden vor allem der Stil der Beziehungen, der Ton im Umgang der Menschen untereinander, ihre „Zivilisiertheit“ auffällt. Hier bewahrt der Bürger auch in der Masse das Bewußtsein für seine Unabhängigkeit und im öffentlichen Verkehrsmittel hält er eine bestimmte Distanz ein. Ältere Leute verlangen in der Regel nicht, daß man ihnen den Platz räumt, und auf das Gelärme von Kindern reagieren die Umstehenden mit einem nachlässigen Lächeln. Natürlich will ich damit nicht sagen, daß der Europäer ein Engel ist, im Gegenteil. Wichtig ist gerade, daß er sich gerade unabhängig davon, ob er als Person „Engel oder Teufel“ ist - bestimmten Regeln der Rücksichtnahme und Höflichkeit unterwirft, sobald er in Gesellschaft ist - und das wird Zivilisiertheit genannt. Aber ein solches zivilisiertes Verhalten wird gesichert durch das ganze moderne System der sozialökonomischen Beziehungen.
Jetzt sind in Westberlin zwei gesellschaftliche Systeme aufeinander getroffen, zwei Zivilisationen, und die gewaltigen Unterschiede zwischen ihnen werden nun, dank der einen allen gemeinsamen Sprache, möglicherweise besonders sinnfällig zutage treten. Sehen wir uns die Westberliner U -Bahn an. Die überfüllten Waggons sind häufig nicht mehr in der Lage, die Menschen aufzunehmen, jene, die es geschafft haben, halten von innen die Türen fest, obwohl man nach Moskauer Standards durchaus noch etwas drücken könnte. Doch das verwöhnte Westberliner Publikum will „Distanz“ wahren, es hat sich nicht daran gewöhnt, daß man sich sogar aufeinandersetzt. Die Ostberliner kann man deutlich ausmachen, wenn der Zug einfährt. An der Stelle, wo sich die Waggontür voraussichtlich öffnet, bilden sie einen Keil und drängen jene mit den Ellbogen zur Seite, die früher gekommen waren und die, wie es sich gehört, Abstand zur Bahnsteigkante gehalten hatten. Ohne zu warten, bis die Passagiere ausgestiegen sind, drängen sie sich ins Abteil und besetzen die Sitzplätze. Wer nicht schnell genug war, ist selber schuld. Die Tür geht zu.
Die bemerkenswerte Situation in der Westberliner U-Bahn zeigt nicht nur die Unterschiede im Verhaltensstereotyp „dort“ und „hier“, sondern auch, wie leicht sie überwunden werden, und in der Regel eben nicht zugunsten der „Zivilisiertheit“. Bekanntlich ist der öffentliche Verkehr im Westen nicht billig. Doch diese Ausgaben garantieren dem Bürger in einem gewissen Grade bestimmte Bequemlichkeiten: man muß sich nicht durch die Eingänge kämpfen, man hat einen Sitzplatz, man kann auf Abstand bleiben.
Umgekehrt ist im Osten der öffentliche Verkehr fast kostenlos. Überfüllte Busse und Metrowaggons sind in Moskau normal. In Ostberlin sieht es ein wenig besser aus. Jetzt aber treffen sich in der westberliner U-Bahn zwei Ströme der des kostenlosen Massentransports, bei dem man alles in Kauf nimmt, wenn man nur fortkommt, der mit Aggressionen verbunden ist, und der kostspielige Nahverkehr, der gewisse Minimalforderungen an den Komfort, der zum alltäglichen Arbeitsleben eben gehört, stellt.
Das Alltagsleben des Osteuropäers unterscheidet sich in seinem Rhythmus wesentlich von dem des Westeuropäers. Im Sozialismus ist der Weg zur Arbeit lang und aufreibend, die Menschen arbeiten länger, aber weniger intensiv, sie haben die Möglichkeit, in der Mittagspause einfach, und ohne daß jemand daran Anstoß nehmen würde, Einkaufen zu gehen und in der Schlange zu stehen. In Großstädten gibt es eine Riesenkategorie von Angestellten, die nicht unmittelbar mit der Industrieproduktion beschäftigt sind und nur ihre Zeit absitzen.
Im Westen ist der Arbeitstag kürzer, doch weitaus intensiver. Kaum jemand kann es sich erlauben, von der Arbeit wegzugehen, um seine Einkäufe zu tätigen. Der Feierabend und der Samstagvormittag - das ist alles, was dem Berufstätigen dafür übrigbleibt. Zu diesem Zweck sind auch die Supermärkte entstanden, wo man unter einem Dach alles bekommen kann. Kaum jemand kommt auf die Idee, von einem Supermarkt zum anderen zu rennen, um zusammenzukaufen, was er an Gegenständen des alltäglichen Bedarfs braucht. Daher hat selbst das nur vorübergehende Verschwinden bestimmter Waren hier eine vollständig andere Bedeutung als deren vollständige Abwesenheit in den Ländern der „Planökonomie“. Wenn im Westen Waren knapp werden oder verschwinden, dann entsteht in einem hochdifferenzierten und rationalisierten System der Versorgung ein Loch. Streßgefühle und Instabilitäten solcher Art haben unmittelbare Auswirkungen auf die Leistungskraft, die die Überlegenheit des Systems ausmacht. Die außerordentliche Konzentration am Arbeitsplatz verlangt einen psychischen Komfort auch außerhalb der Arbeit. Ärger, Aggressivität, Vergeudung der Freizeit für sinnloses Schlangestehen und die Jagd auf defizitäre Waren schlagen sich - nicht anders als im Sozialismus - auf das gesellschaftliche Klima nieder. Die Kritik der
Konsumgesellschaft
und die Realität
Die westlichen Kritiker der Konsumgesellschaft glauben, daß jeder widernatürliche Überfluß an Waren, der das Lebensziel des westlichen Systems darstellt, auch der Indikator seines Niedergangs ist. Maßlose Verschwendung von Ressourcen und Energie führen in die Katastrophe: zur Verseuchung der Umwelt, zur Drogensucht, zur Kriminalität, zur Armut. Die Kritiker des westlichen Systems im Osten rufen nun dazu auf, diese Fehler der Konsumgesellschaft zu vermeiden und sofort von einem unterentwickelten Sozialismus zu einer „reifen Ökogesellschaft“ überzugehen. Doch solche Konzeptionen werden keinen große Resonanz finden, weder in den Entwicklungsländern noch in den Ländern des real existierenden Sozialismus. Das Drama besteht nämlich darin, daß die armen Länder genau jene Phasen der Entwicklung durchlaufen, die Westeuropa und die USA vom 17. bis zum 19.Jahrhundert erfolgreich und auf Kosten der Kolonisierung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Welt durchlaufen haben. Die brasilianischen Umweltschützer haben unter Einsatz ihres Lebens gefordert, das Abholzen der tropischen Regenwälder - des globalen Sauerstoffreservoirs einzustellen. Doch die Monopole finden mehr als genug Arbeitskräfte, was immer auch sein mag. Denn sie geben Brot, während die Umweltschützer nur eine abstrakte Idee zu bieten haben.
Dasselbe geschieht in den sozialistischen Ländern, wo der Kampf für eine gerechte Verteilung gescheitert ist und Menschen und Natur an den Rand des Kollapses geführt hat.
Als Realist muß man sich eingestehen, daß der überwältigende Teil der Bevölkerung der sozialistischen Länder sich auf den Konsum westlichen Typs und auf eine Vorstellung von Freiheit orientiert, der verkörpert ist in glänzenden Autokarrosserien und in der anderthalb Meter langen Wurst, die im Konsummuseum KaDeWe zu besichtigen ist.
Nur jemand, der genug hat und müde geworden ist von all den Sachen, der die moralische Wüste empfindet und die Sinnlosigkeit des Überflusses und der Überlebtheit all der Dinge, nur ein solcher Mensch macht sich Gedanken darüber, daß es auch noch etwas anderes gibt. Er wird persönlich den Weg der Negation der existierenden Konsumkultur, die auf die Vernichtung der natürlichen und geistigen Existenzgrundlage hinausläuft, durchmachen müssen. Er wird sich bewußt für einen anderen Weg entscheiden und mit Gleichgesinnten für eine veränderte Strategie und für eine Umorientierung arbeiten müssen. Solche Leute gibt es sogar im Westen nicht allzu viele. Doch den ökonomisch zurückgebliebenen und in der Vernichtung der Umwelt vorangeschrittenen sozialistischen Gesellschaften leuchtet nicht ein, was dem saturierten Kritiker der westlichen Kultur schon geläufig ist. In ökonomisch unreifen Gesellschaften wiederholt die Entwicklung des Massenbewußtseins die Stadien der kapitalistischen Entwicklung, nur in geraffter und verzerrter Form.
Das Drama dieses „biogenetischen Gesetzes“ besteht darin, daß es heute in einer anderen geopolitischen und ökologischen Situation wirkt, in der das zerstörte natürliche Gleichgewicht schon im globalen Maßstab die gesamte Menschheit bedroht - unabhängig vom Entwicklungsstadium und der Gesellschaftsstruktur. Die kommenden Kriege werden ökologische sein und geführt um Sauerstoff, um Wasser, um Gene.
Die alternativen Kräfte in der DDR versuchen, den „Ausverkauf des Landes“ zu verhindern und die Entstehung einer konsumorientierten Gesellschaft mit all ihren korrumpierenden Folgen zu verhindern. Dieser ehrbare Idealismus wird kein enthusiastisches Echo in einer Bevölkerung auslösen, die gegenwärtig in Westberlin für westliche Waren und Werte abstimmt. Sie vergleichen Realität mit Realität. Der Mut der Idealisten bestünde demnach nicht in ihrem Kampf für Ideale, sondern darin, der realen Verteilung der gesellschaftlichen Kräfte ins Auge zu sehen und in die Auseinandersetzung mit ihnen einzutreten. Das Selbstbewußtseins Westberlins
So und jetzt sind in Westberlin zwei Gesellschaftssysteme aufeinandergetroffen. Ein gewaltiger wirtschaftlicher, psychologischer, ökologischer und kultureller Abstand trennt sie. In den ersten Tagen und Monaten wird die Zugehörigkeit zu einer Sprache oder zu einer Nation die wesentlichen Unterschiede in der Mentalität und in der Psychologie kaschieren. Doch früher oder später werden sie sichtbar. Westberlin wird niemals mehr das sein, was es 28 Jahre lang war - ein komfortabler goldener Käftig. Doch die Frage, ob es zu einer sozialistischen Stadt wird, was jetzt wie ein Hirngespinst aussieht, ist offen. Es geht nicht um die Formen des Eigentums, sondern um die gesellschaftliche Entropie, die dem Sozialismus eigen ist.
Werden die bürgerlichen „Tugenden“, die im Schutz der Mauer gewachsen sind, dieselben Risse bekommen wie dieses antiquierte Bauwerk selber? Das Leben, zurückgeworfen auf die Periode der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, wird eine neue Brutalität gewinnen. Über die Formen kann man nur spekulieren. Den Westberlinern steht eine schwere Zeit bevor. Nicht nur weil im „historischen Augenblick“ bestimmte Stimmen verstummen, sondern auch deshalb, weil Orientierungslosigkeit, Unmut und Angst verdrängt werden von nationalem Einheitsgefühl und offiziellem Pathos.
Ob Westberlin eine sozialistische Stadt wird, hängt von seinen Bewohnern ab. Von ihrer Eigenaktivität, von ihren klaren Vorstellungen und Zielen, die nicht dieselben sein können wie die von „Staat“ und „Nation“. Westberlins Stärke besteht im „Egoismus“ seiner unabhängigen Bürger. Diese ureigensten „egoistischen“ Interessen müssen artikuliert werden.
Das Leben der Menschen fließt in der Regel nicht im Flußbett der Geschichte, sondern im Alltag dahin. Aus ihm gehen die Ereignisse geschichtlicher Tragweite hervor. Hitler hat zuerst im Alltag gesiegt, bevor er in die „Geschichte“ einging. Die aus der DDR Flüchtenden fliehen vor ihrem tristen Alltag, und die Massenflucht war es, die zum „historischen Ereignis“ geführt hat. Egoistische Interessen können manchmal Berge versetzen, „nationale“ und „öffentliche“ können in die Katastrophe führen. Wird Westberlin ein gigantischer Supermarkt für Osteuropa, werden die Kinder an den Auspuffgasen ersticken, können sie im Frühling noch die Grünflächen finden, die es hier noch gibt oder werden sie geschlossen sein in einer heruntergekommen, zertrampelten Freihandelszone?
Westberlin hat lange darum gekämpft, daß die Bewohner des Ostens freien Zugang in die freie Zone bekommen. Denen aber ist es egal, ob man die Westberliner nach Ostdeutschland läßt - sozusagen „ohne Annexionen und Kontributionen“. Sie leben in Saus und Braus, sollen sie doch zahlen. Die Vorstellung, daß der Westen zahlen und für die leidenden Brüder und Schwestern im Sozialismus sorgen soll, diese Alimentationshaltung wird in der Periode der Perestroika in Osteuropa, da der politische Druck nachläßt und die moralische Erschöpfung wirksam wird, besonders drastisch in Erscheinung treten - ob bei den DDR-Deutschen, bei den Polen oder Sowjetbürgern.
Wer in der Weltstadt Westberlin lebt, hat sich nicht nur um die eigenen Blutsbrüder zu kümmern. Es gibt viele, zuviele, die Rücksicht und Zuwendung verdienen - im Allerelementarsten. An sie denkt man nicht mehr in der Minute des „historischen Augenblicks“ und der Verteilung der Begrüßungssuppe. Die Flüchtlingsfamilien mit den vielen Kindern, die aus den Hungerzonen der Welt gekommen sind und die politischen Emigranten aller Hautfarben. Sie hat man nicht zum Gratisbesuch des deutschen Zoos und zum Festtag der deutschen Nation eingeladen. Sie sind jetzt noch überflüssiger als sie es schon vorher waren. Nicht für sie gibt es den kommunistischen Subbotnik des 17.Juni, den die Regierung zur Unterstützung der Blutsbrüder veranstalten will. Man kann das natürlich auch einen Akt der Solidarität nennen, doch zu sehr riecht eine solche „freiwillig -unfreiwillige“ Maßnahme nach den Parteimobilisierungen, wie sie in diesem Jahrhundert von zwei Regimen vorexerziert worden sind.
Wird Westberlin eine sozialistische Stadt werden?
Wird die Stimme des Blutes lauter als die Stimme der Vernunft? Hilft der „vernünftige Egoismus“ des Westmenschen, den Bürgern der DDR ein neues Gefühl für die eigene Würde zu geben, ein Gefühl, daß sie Partner und nicht Hilfsbedürftige sind, und daß sie für sich selbst verantwortlich und autonom sind?
Diese Fragen sind genauso offen wie Westberlin - die freieste und unvorhersagbarste Stadt der Welt.
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