Über die Zuspätkommenden

Mit der alt-neuen Führung kann die SED ihre Reformpolitik nicht verkaufen  ■ K O M M E N T A R E

Die SED-Spitze bleibt auch weiterhin dazu verdammt, um Vertrauen und Zustimmung der Gesellschaft zu buhlen. Demütigend ist das nicht nur deshalb, weil die ehemals uneingeschränkten Machthaber beim Einstudieren ihrer neu -demokratischen Rolle oft komische Figur machen, sondern weil der Erfolg ihrer Bemühungen gegen Null tendiert. Die Gesellschaft erweist sich in ihrer ablehnenden Haltung als erstaunlich resistent gegenüber allen Reformmaßnahmen und -ankündigungen der Führung. Fast täglich gibt sie so en passant ein Stück dessen auf, was am Vortag noch als unverzichtbar galt. Gestern die Mauer, heute den Führungsanspruch. Jeder Schritt - für sich genommen eine Sensation - prallt an der Skepsis ab, die die Partei in 40 Jahren gezüchtet hat. Natürlich wird die Öffnung der Grenzen euphorisch genutzt, werden die gequälten Rechtfertigungsversuche der Gewendeten an den Bildschirmen goutiert. Doch als Legitimationsgewinn der alt-neuen Führung schlägt die Reformakrobatik nicht zu Buche.

Überraschend ist die anhaltende Erfolglosigkeit der neuen Politik deshalb, weil die Parteispitze längst über das Anfangsstadium taktischer Manöver hinaus ist. Angesichts der Wucht, die die Reformbewegung aufbringt, gehen alle Gegenargumente, die auf die Rückholbarkeit der vollzogenen und die Nichteinlösung der angekündigten Reformmaßnahmen verweisen, ins Leere. Die Partei wird mit der Opposition am runden Tisch sitzen, es wird freie Wahlen geben; der bislang garantierte Führungsanspruch wird die Verfassungsreform ebensowenig überdauern wie die Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die von der realen Entwicklung längst entkräftet wurden. Doch der Druck bleibt, obwohl weder Opposition noch Parteibasis Gegenkonzepte präsentieren, die mit der offiziellen Parteilinie, deren Flexibilität längst kalkulierbar geworden ist, prinzipiell unvereinbar wären.

Das Dilemma der nichtbelohnten Wende beruht nicht auf ihrem Konzept, sondern auf den Personen, die sie zu realisieren suchen. Die Führungsmannschaft - Leute, die die alte Politik schweigend mitgetragen haben, und solche, die sie in exponierter Stellung exekutierten - ist unfähig, den Umbruch zu vollziehen. Das Stigma der Fallensteller haben sie sich allzu eifrig verdient. Die Wende können sie nicht mit dem Salto, sondern nur noch durch ihren Abgang glaubwürdig vertreten. Der Gorbatschow-Satz, den sie jetzt so gerne zitieren, die Zuspätkommenden bestrafe das Leben, gilt nicht nur für Honecker und Mittag, die jetzt schonungslos als Gesamtverantwortliche demontiert werden. Für die Krenz‘ und Schabowskis wäre es ratsam, die Denunziation der alten Genossen nicht gar zu weit zu treiben. Denn wenn die Partei die eigentliche Ursache ihrer erfolglosen Reformpolitik erkennt, sind sie die nächsten, mit deren spektakulärer Entthronung der Neuanfang untermauert wird.

Matthias Geis