Besuch vom Neuen Forum aus Rostock

■ Zwei Vertreter des Sprecherrates des „Neuen Forum“ aus Rostock waren am Wochenende in Bremen

Das „Neue Forum“ ist keine neue Partei in der DDR, sondern eine lose organisierte Bewegung, in der verschiedene Meinungen Platz haben sollen. 1.000 AnhängerInnen zählt das Neue Forum in Bremens Partnerstadt Rostock (250.000 EinwohnerInnen). Zwei der Sprecher des „Forum“ waren am Wochenende auf Einladung der Grünen nach Bremen zu deren Mitgliederversammlung gekommen (vgl. Seite 18). Bevor sie in der Nacht zurückfuhren, nahmen sie sich Zeit für die Fragen der taz.

Was hat sich im Leben in Rostock denn verändert in den letzten drei Wochen?

Axel Peters, Bildhauer: Papa ist kaum noch zu Hause.

Rainer Ohff, Chemiker: Dort, wo zwei oder drei zusammen sind, werden politische Dikussionen geführt. Die Diskutierfreudigkeit im Land hat zugenommen.

Peters: Die Diskutierfreudigkeit war immer schon da. Es ist vor allem die offene Diskutiermöglichkeit.

Ohff: Das ist eher ein Monolog. In großen Sporthallen sitzen 10 Menschen im Präsidium und 3.000 unten, und die 3.000 schimpfen, geben Mißstände bekannt, und oben sitzt große Sprachlosigkeit.

Was ist denn los in den Betrieben? Wird da auch die halbe Zeit debattiert? Über die Pläne?

Ohff: Das ist es. Es kann keiner mehr, wie noch vor Wochen, mit hohlen Floskeln kommen. Das nehmen die Leute nicht mehr hin.

Peters: Das ist in den Betrieben auch ganz stark: Alles, was nicht die Arbeit berührt, alles, was diese Hohlheit ausmachte, fällt unter den Tisch: Wettbewerb, gesellschaftliche Versammlungen während der Arbeitszeit... Das interessiert die Leute nicht mehr.

Gibt es Situationen, wo Leute selbst Initiativen zur Veränderung der Arbeit ergreifen? Wo die bürokratischen Strukturen der Ökonomie verändert werden?

Peters: Verändert werden - nicht. Es gibt aber schon Willensbekundungen. Wir können auch im Grunde kein Interesse daran haben, daß diese Strukturen zu schnell zerschlagen werden, noch funktioniert die Wirtschaft in diesen Strukturen. Auf unserer Einwohnerversammlung in Behnkenhagen, einem Dorf in der Nähe von Rostock, haben vier Bonzen den Rücktritt angeboten. Daran kann gar nicht gelegen sein. Die wollen alle weg und sich aus dem Staub machen, sie müssen aber aufräumen, was sie hinterlassen haben.

Der Oberbürgermeister von Rostock ist noch da?

Peters: Der ist noch da, aber der eigentlich mächtige Mann, der Parteichef vom Bezirk, ist weg. Der Kreisschuldirektor saß auf einer Versammlung völlig hilflos da und sagte, meine ganzen Chefs sind weg, ich weiß noch nicht ein

mal, wo sie hin sind, noch weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Ohff: Aber es ist auch festzustellen, daß überflüssige Arbeiten - ich kann das aus wissenschaftlichen Instituten sagen - eingestellt werden. Für das Unwichtige ist kein Geld mehr da.

Hat sich das Stadtbild von Rostock verändert, gibt es da Plakate, gesprühte Wandparolen?

Ohff: Nein.

Peters: Nur am Donnerstag, dann sind Zehntausende auf der Straße mit Plakaten.

Ohff: Jeden Donnerstag ist in allen

Rostocker Kirchen eine Gebetsandacht, anschließend ist Demonstration.

Hat sich die SED-Zeitung von Rostock verändert?

Peters: Das ist sehr differenziert zu sehen. Die hat einen Artikel geschrieben: Wer ist und was will das Neue Forum? Das war ein Verriß. Wir haben einen Gegenartikel geschrieben und hingebracht, der ist nicht veröffentlicht worden. Während die NNN (Norddeutsche Neueste Nachrichten), eine kleinere Lokalzeitung der Nationaldemokratischen Par

tei, sich ganz klar auf die Seite des Forums gestellt hat. Die NNN hat auch den Aufruf für die Entmilitarisierung veröffentlicht und Stellungnahmen dazu. Sie hat auch einen sehr spitzen Artikel zu dem Interview gebracht, das der Krenz im Westfernsehen gegeben hat. Die Ostsee-Zeitung hat unseren Aufruf nicht veröffentlich, aber die Stellungnahme des Verteidigungsministers dazu.

Ohff: Wir hatten eine Diskussion mit dem Chefredakteur und haben ihn gefragt, was er unter Pressefreiheit versteht. Er hat klar gesagt, daß das eine parteiliche Zeitung bleibt.

Das ist der alte Chefredakteur?

Peters: Ja, das ist der alte.

Ohff: Noch.

Wie habt ihr in Rostock den Fall der Mauer, den 9. November erlebt?

Ohff: Der 9. November ist ein Donnerstag gewesen...

Peters: Hier - zieht ein Steinchen aus der Tasche - das ist ein Stück von der Mauer.

Ihr wart in Berlin?

Peters: Am elften. Diesen Stein habe ich von einer englischen Journalistin bekommen.

Ohff: Am 9. waren wir ab halb sieben in den Kirchen, während der Demonstration wurde uns mitgeteilt: Die Mauer ist gefallen, die Grenzen sind offen ...

Peters: Das hat keiner geglaubt. Zu Hse haben wir es dann im Fernsehen gesehen.

Wie geht es weiter in Rostock?

(Schweigen)

Peters: Kommt das Schweigen jetzt auch in die Zeitung?

Ja.

Ohff: Das ist sehr schwer zu sagen.

Peters: Die Stadt diskutiert, es sind 24 Arbeitsgruppen beim Rat der Stadt gebildet worden, über Ökologie, Gerechtigkeit, Kultur, Armee, Trinkwasser ... Das Forum ist daran beteiligt, in diesen Gruppen werden Papiere erarbeitet, und dann kommt die Stunde der Wahrheit.

Wer „sie“?

Peters: Die Leute, die die Macht noch haben.

Wenn jetzt eine Meinungsumfrage gemacht würde, oder eine Wahl wäre, wieviele Stimmen würde die SED bekommen?

Peters: Wenn jetzt Wahlen sein sollten, wäre das ein Chaos. Kein Mensch weiß, was er wählen soll. Eines ist sicher: Die SED würde schlecht aussehen, 10 Prozent.

Ohff: Das alles ist sehr spekulativ. Auf keinen Fall eine regierungsfähige Prozentzahl.

Was soll aus der DDR-Ökonomie werden?

Ohff: Das ist nicht zu beantworten, da keiner die Daten kennt. Die SED hat sich bisher geweigert, Zahlen zu nennen.

Sind noch viele für Sozialismus?

Peters: Man müßte das Wort Sozialismus neu definieren, aber wir haben noch nie in der Welt Sozialismus erlebt.

Ohff: Das Wort Sozialismus ist so mißbraucht, so diskreditiert, daß es schwierig ist, emotionsfrei darüber in der Öffentlichkeit zu diskutieren. In zehn Wochen Demokratisierung und Befreiung ist über das ökonomische System wenig diskutiert worden. Es gab andere Dinge, die moralische und die politische Dimension unseres Lebens. Die Unzufriedenheit über die Wirtschaft äußert sich in Meckern und Ratlosigkeit.

Wenn du einen Wunsch frei hättest an die Bundesbürger...

Peters: Nichteinmischung, das ist mein Hauptwunsch. In Zeiten, wo wir eingesperrt und sprachlos waren, war die Hilfe aus diesem Land auch sehr gering. Vielleicht auch: Daß die Bundesrepublik noch vor der DDR abrüstet. Dann hätten wir es noch leichter.

Was wird aus eurem Aufruf?

Peters: Der soll diskutiert werden, und dann wollen wir eine Volksabstimmung darüber herbeiführen.

Int.: K.W.