Vom Kalten zum „kleinen“ Krieg

Jeffrey Record, Gastdozent am konservativen Hudson Institute in Virginia, plädiert für eine strategische Wende des Pentagon  ■ G A S T K O M M E N T A R

Über 40 Jahre lang wurde die US-amerikanische nicht-nukleare Verteidigungsplanung bestimmt von der Bedrohung einer sowjetischen Invasion Westeuropas. Diese Möglichkeit - ein hochexplosiver Konflikt inmitten eines der am stärksten bewaffneten Kontinente der Erde gegen die mächtigste und größte Armee der Welt - diktierte riesige Investitionen in kostenträchtige hochtechnologische Strukturen. Diese sollten eine „verbesserte Auflage“ des Zweiten Weltkrieges garantieren.

Die wirklichen Kosten eines Plans für den „großen Krieg“ in Europa sind jedoch mit mehr als nur Dollars zu berechnen. Man kann sie auch an der relativen Unachtsamkeit der US -Streitkräfte gegenüber anderen, „kleineren“ Konfliktherden außerhalb Europas messen. Als das Pentagon den Krieg gegen Vietnam begann, kamen Waffen, Doktrinen und Armeestrukturen zum Einsatz, die vielleicht für die mechanisierte Kriegsführung in der norddeutschen Ebene optimal waren, sich jedoch gegen einen mit einfacher Logistik ausgerüsteten und schwer faßbaren Gegner als kontraproduktiv erwiesen.

Noch weniger Aufmerksamkeit schenkte man vielleicht der heutigen militärischen Herausforderung schlechthin: Spezialoperationen, etwa solch unkonventionelle Aktionen wie Geiselbefreiung, Zerschlagung terroristischer Organisationen oder von Drogendealerringen. Obwohl die Reagan -Administration viel Geld in Sondereinheiten steckte, bewiesen doch gerade die Auftritte in Iran oder Grenada, wie sehr die „Große Krieg„-Mentalität dominierte und den Anforderungen solcher Spezialoperationen zuwiderlief.

Europa bleibt Amerikas erste Verteidigungslinie. Daß ungefähr die Hälfte aller US-Verteidigungsausgaben sich auf Europa konzentrierten, hat schließlich dazu beigetragen, daß der Kontinent die längste Zeit seiner Geschichte ohne Krieg blieb. Erfolgreiche Abschreckung hat sich allerdings auf Europa reduziert. In Nordkorea in den 50er oder Nordvietnam in den 60er Jahren funktionierte die US-amerikanische Abschreckung nicht. Und auch nicht bei Angriffen auf Amerikaner oder amerikanische Interessen durch Figuren wie Noriega, Gaddafi, Khomeini und die Medellin-Koka -Aristokratie. So wenig die B-52-Bomber gegen das Politbüro in Hanoi ankamen, so wenig konnten die 16-inch-Kanonen auf dem Kriegsschiff „New Jersey“ etwas gegen die Hizbollah -Terroristen in Libanon ausrichten. Es sind diese „kleinen Kriege“, nicht die Phantastereien vom Marsch der Russen auf Calais, die das Pentagon heute herausfordern. Nichtsdestotrotz konzentrieren sich besonders Armee und Luftwaffe auf den „großen Krieg“ in Europa. Keine andere Herausforderung als die durch den Warschauer Pakt kann ein solch kostspieliges Verteidigungssystem überhaupt legitimieren.

Fehlte eine glaubhafte und substantielle sowjetische Bedrohung Europas, die USA könnten ihre verbleibenden Verteidigungspflichten mit vielleicht der Hälfte der jetzigen Divisionen abdecken. In Europa sind momentan 10 der 18 aktiven Divisionen stationiert. Seit 1949 hat die durchschnittliche jährliche Friedenszeiten-Stärke der US -Armee niemals 200.000 Mann überschritten.

Vielleicht ist es verfrüht, den Kalten Krieg feierlich zu begraben. Andererseits besteht wenig Zweifel daran, daß die massive sowjetische Bedrohung, die von US-Strategen seit dem Ende der 40er Jahre als Konstante genommen wurde, nicht von einem ideologisch und ökonomisch bankrotten Land, dessen externes Imperium mehr und mehr zerfällt und dessen interne Verhältnisse rapide aufweichen, ausgehen kann.

Schon wurden bedeutende unilaterale Truppenreduzierungen in Osteuropa vorgenommen. Und Gorbatschow hat es eilig, einen Großteil der noch verbleibenden militärischen Macht in Verhandlungen mit der Nato abzubauen. Am Ende dieses Jahrhunderts könnte die Nato ein militärischer Anachronismus sein.

Wie wird sich das Pentagon einer schwächeren sowjetischen Bedrohung gegenüber verhalten? Offenbar will das Pentagon das gar nicht. Verglichen mit den „kleinen“ und oft auch „schmutzigen“ Kriegen gegen drittklassige Opponnenten in der Dritten Welt war militärisch wie auch technologisch immer etwas Schillerndes daran, den „großen Krieg“ in Europa zu planen. Das Pentagon kann seine Struktur, seine Doktrin und seine Waffensysteme nicht länger von einem Krieg bestimmen lassen, der niemals stattfinden wird. Nostalgische Anwandlungen über die großen und glorreichen Kämpfe des Zweiten Weltkrieges und die simplen und einfachen Verteidigungsmuster des Kalten Krieges sind ein Hindernis geworden in einer Welt, in der nicht-sowjetische Bedrohungen amerikanischer Interessen außerhalb Europas eine größere Gefahr darstellen als sowjetische Panzer, die die Elbe überqueren.

Erstdruck am 22.11. in der 'Baltimore Sun‘