„Bitte nicht plattmachen“

15.000 demonstrieren meist friedlich in Göttingen zum Gedenken an Cornelia Wissmann gegen Faschismus und Polizeiterror / Polizei und Autonome bekriegen sich  ■  Aus Göttingen Julius Kolb

„Nichts ist mehr so, wie es war. Wir wollen klarmachen, daß sich ein Mensch wie Conny nicht auf den Begriff Antifaschistin oder den Anonymus Cornelia W. reduzieren läßt.“ Einer von drei RednerInnen sagt dies vor 15.000 Demonstranten in Göttingen auf der Kundgebung gegen Faschismus, Polizeiterror und zum Gedenken an den Tod von Conny Wissmann. Die 24jährige Studentin war gegen 21.20 Uhr am Samstag vorletzter Woche bei einer Polizeiaktion in den laufenden Verkehr getrieben worden.

Göttingen war die vergangene Woche wie gelähmt. Der Schock über den Tod der engagierten Antifaschistin sitzt tief. SPD, Grüne, Kirchenvertreter, LehrerInnen hatten für eine friedliche Demo mobilisiert. An Randale war in Göttingen kaum jemand interessiert. Auch die Göttinger Autonomen appellierten per Lautsprecher, „heute“, so wörtlich, „keine Scheiben klirren zu lassen.“

„Bitte nicht plattmachen“, hieß es in Anspielung auf einen Polizeifunkspruch unmittelbar vor dem Tod von Cornelia Wissmann auf Transparenten, und „Menschen sterben und ihr schweigt“. Betroffenheit und Hilflosigkeit prägen die Haltung der Mehrzahl der 15.000 Demonstranten. Aber 2.500 angereiste Autonome sind nicht zu einer „Latschdemo“ gekommen, sieben Menschen werden bei Polizeikontrollen schon an den Einfallstraßen festgenommen, am Abend stapeln sich 63 Müllsäcke u.a mit Zwillen, Knüppeln und Leuchtmunition im Polizeirevier.

Bei der Demonstration hielten sich die etwa 1.600 Polizisten aus ganz Niedersachsen zunächst im Hintergrund. Erst als der Zug von der Weender Landstraße zum zweiten Mal durch die Innenstadt geht, fliegen Steine gegen Banken, Fortsetzung auf Seite 4

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McDonald's und Geschäfte. Die „Göttinger BürgerInnen gegen Rechtsextremismus und Gewalt“, autonome Ordner mit Walkie -Talkies versuchen die Leute immer wieder zu beschwichtigen.

Am Polizeirevier im Steinsgraben kommt es zu ersten Zusammenstößen. In Dreierreihen mit Helmen und Schildern stehen Polizisten dicht hinter dem drei Meter hohen Zaun: Auf dem Gehweg schlagen mehrere Hundertschaften mit ihren Knüppeln in immer schnellerem Takt auf die Schilder, machen Stimmung. Steine und Leuchtmunition fliegen. Die Straße wird abgeriegelt, Wasserwerfer fahren auf.

Die Stimmung ist zum Zerreißen angespannt, die Demo mit immer noch über 12.000 TeilnehmerInnen will weiter. Als die Absperrung endlich aufgehoben wird, geht der Zug zur Abschlußkundgebung.

Dort - vor dem Neuen Rathaus - fordern Redner u.a., daß der Göttinger Polizeichef abgelöst wird, die an der Polizeiaktion betiligten Beamten vom Dienst suspendiert werden, daß Polizisten, die Mitglieder der „Republikaner“ oder anderer rechtsextremen Gruppen sind, entlassen werden und die Stadt Göttingen Projekte gegen Faschismus und Neofaschismus unterstützt.

Nach der Kundgebung hat die Polizei ihre zurückhaltende Rolle endgültig abgelegt. Von allen Straßen stürmen Hundertschaften den Platz, die Wasserwerfer rücken nach, die DemonstrantInnen werden die Bürgerstraße in Richtung Jugendzentrum Innenstadt (JUZI) gedrängt.

Von allen Seiten Polizei. Eltern bilden zum Schutz ihrer Kinder gegen die Polizei Ketten, Pflastersteine fliegen, ein brennender Mollie landet auf einem Polizisten. Zwei Streifenwagen werden umgekippt, Schutzpolizisten, die zur Verkehrsregelung abkommandiert sind, flüchten sich in Hauseingänge. Menschen, die auf der Flucht stolpern, werden

-am Boden liegend - von Beamten verprügelt.

Gegen 18.30 Uhr ist es wieder ruhig. Bilanz: 97 zumeist leichtverletzte Polizisten, zwei Demonstranten müssen ambulant im Krankenhaus behandelt werden, zahlreiche leicht Verletzte. Der Schwarze Block von außerhalb reist wieder ab, Polizei

patrouilliert in 30-Mann-Gruppen in der Innenstadt, doch die Nacht wird ruhig.

Die SPD-Landtagskandidatin Hulle Hartwig aus Göttingen wirft der Polizei und der politischen Leitung im Innenministerium den „politischen Willen zu Straßenkrawallen“ vor. Man brauche „kurz vor der Landtagswahl den Straßenkampf in Göttingen“.

Die Kämpfe vom Wochenende werden weitere Kreise ziehen. GöttingerInnen sind über die Polizei empört. Eine Lehrerin sagte der taz, ihre Kinder redeten nach den Ausschreitungen der Polizei nur noch von „GeStaPo“. „Wir wären gestern auch beinahe plattgemacht worden“, sagte sie.