Die Kinder des Prager Frühlings probieren den Ausstand

■ Alles kommt jetzt darauf an, ob die ArbeiterInnen den Generalstreik in der Tschechoslowakei landesweit unterstützen/Demonstrationen gehen weiter

Am vorletzten Freitag wurden sie auf der Prager Nationalstraße verprügelt, am Freitag danach haben sie ebenda die Nacht durchjubelt: Die Kinder Böhmens, bald von den Kindern des ganzen Landes gestützt, die schließlich die gelähmten Erwachsenen mitreißen konnten, mit vereinter Kraft die totalitäre Macht aufzulösen.

„Zwanzig Jahre haben wir keine Zeitrechnung gehabt“, sagte Freitag nacht Vaclav Havel, als er mit Alexander Duccek die erste Pressekonferenz „danach“ gab, „die Studenten haben uns die Geschichte zurückgegeben, wir danken!“

Ihre umstürzlerische Tätigkeit bestand hauptsächlich aus Stehen, Rufen und Singen. So einfach war es, so spielerisch leicht, so unmilitant. Und doch so schwer und gefährlich!

Das CSSR-Fernsehen brachte jetzt als Vorgeschmack der Offenheit den Nachgeschmack der Ereignisse: Amateurfilme vom 17.November. Ausgerechnet am Tage, an dem Studenten ihres Toten gedachten, den vor 50 Jahren in der Stadtmitte Prags die Nazis ermordet hatten, kam der Befehl zum brutalen Polizeieinsatz. Die Bilder von Reihen auf dem Asphalt kniender junger Menschen hinter der rührenden Barrikade aus brennenden Kerzen, auf die sich falschprogrammierte Roboter mit Schlagstöcken werfen, bleiben unvergeßlich.

Am Tag danach, um den allgemeinen Schock zu dämpfen, fand die vielleicht mißlungenste Provokation der Polizeigeschichte statt. Die berüchtigte Abteilung für Desinformation muß auf die Idee gekommen sein, die Charta 77 vor der ganzen Welt zu diskreditieren. Man spielte einem ihrer wichtigsten Leute die falsche Nachricht zu, bei dem Einsatz sei ein Student zu Tode geprügelt worden - Name, Fakultät, sogar Zeugen mitgeliefert, die sich, nachdem die Tat den westlichen Medien gemeldet wurde, verflüchtigt hatten. Prompt zeigte man im Fernsehen sogar zwei verlegene Studenten gleichen Namens, die sehr wohl am Leben waren. Die Macht triumphierte, die Lügner von der Charta seien öffentlich überführt worden!

Was sie nicht bedachte: Ein Volk, das sich 21 Jahre belogen wußte, hielt die Wahrheit für Lüge und Lüge für Wahrheit, für die man erst recht eintreten muß. Zigtausende Studenten gingen mit brennenden Kerzen auf die Straße. Und als der Vorfall geklärt wurde, ist der vermeintliche Tote einfach zum unbekannten Märtyrer geworden, stellvertretend für alle bekannten aus der jüngsten Zeit.

Ein Bumerang, der mit voller Kraft die Werfer traf!

Alle Hochschüler und nach ihnen die meisten Oberschüler traten in den Streik. In der ersten politischen Aktion ihres manipulierten Lebens legten die Kinder Böhmens und der Slowakei Mut, Reife als auch Noblesse an den Tag, wie sie auch im Abendland selten zu sehen sind.

Als ob es auch politische Gene gäbe, die urdemokratisches Volk nie verlieren kann.

In einem land, wo sich im Reiben der Reformation und Gegenreformation keine wirkliche nationale Kirche bilden konnte, fehlten Orte der ungestörten Kommunikation wie in Polen und der DDR. Der wachgewordene Geist der Nation fand einen adäquaten Ersatz: die Theatersäle. Zehntausende Karteninhaber machten begeistert mit, als statt der Vorstellungen plötzlich der Bürgeraufstand geprobt wurde: Von den gestern noch zensurierten Bühnen hörten sie nach zwei Jahrzehnten offene Worte über alle bisherigen Tabus.

Und als die Macht diese Kundgebungen umgehend verbieten ließ, blieben die Tore der Theater geschlossen, und die Bühnen schrien, indem sie schwiegen. Die Schauspieler, die zwanzig Jahre für das Regime mimten, wurden Moderatoren der Massenversammlungen und retteten eindrucksvoll die geschmähte Ehre der Thalia.

Am dritten Tag des Studenten- und Künstlerstreiks spielte die bedrängte Macht mit dem Gedanken, ihre bewaffneten Arbeitermilizen einzusetzen. Die Kinder jedoch erschraken nicht, auch junge Arbeiter standen bereits mit ihnen auf der Straße, und die Väter begriffen, daß sie auf eigene Sprößlinge schießen müßten.

Tag für Tag sah man in immer länger dauernden Aufnahmen, wie sich der riesige Wenzelsplatz mehr und mehr füllte. Am Montag begann nämlich eine seltsame Radio- und TV-Schlacht: Die Befürworter und die Gegner sendeten auf der gleichen Welle, die Standpunkte wechselten wild, ohne Rücksicht auf Proporz und schärfer als in jedem westlichen Land. Eine Volksbildung im Schnellkurs.

Es war mühsam wie das Holzfällen, wie sich die Reformer aus dem Schattendasein ins Rampenlicht durchrangen, bis sie plötzlich dominierten und die größten Plätze aller Großstädte füllten. Daß die Heiligsprechung der Przemislieder Fürstin Agnes, längst davor geplant, just auf den Sonntag nach den ersten Rücktritten fiel und die Festung Hradschin sich für die Gläubigen vom Lande öffnen mußte, die in den Veits-Dom pilgerten und sich dann der größten Demonstration seit 1938 anschlossen, das gehört bereits in den Bereich der Wunder...

Im riesigen Saal des Kulturpalastes am anderen Ende Prags stand gleichzeitig das einfache Parteivolk auf und feuerte gleich zwei weitere Politbüromitglieder mit dem Versprechen, viele andere würden bald auf den Parteikonferenzen folgen.

Unheimlich waren die TV-Bilder der noch immer regierenden Panzerrufer von 1968, die vor laufenden Kameras von der aufgebrachten Basis erfuhren, sie seien unerwünscht. Auf ihr existentielles Maß reduziert, zeigten die Gestürzten kein Quentchen jener menschlichen Würde, die ihre Gegner über zwanzig Jahre Verfolgung behalten hatten. Für diese schlägt jetzt die Stunde der politischen Verantwortung, und die nehmen sie mutig wahr. Der Übergangsministerpräsident muß mit jenen verhandeln, die er vor kurzem in Wien Nullen nannte.

Um ihnen weiterhin den Rücken zu stärken, stehen auf allen Plätzen des Landes nach wie vor so gut wie alle zwanzigjährigen Kinder, die mit bloßem Rasseln ihrer Schlüssel eine übermacht verscheuchten. Generalstreik heißt jetzt die Losung! Auch Wiener Hochschülerschaften und die Jugend aller Parteien führen ihn am Montag um 12 Uhr vor der CSSR-Botschaft solidarisch durch. Das europäische Haus wird im Rohbau sichtbar.

Oh, Gott, wie stolz ist man als Europäer auf den jungen Arbeiter aus dem Bratislaver Slovnaft, der vor der Menge wortwörtlich verkündet:

„Ja, wir sind die Straße, aber eine freundliche Straße. Ja, wir sind freundlich, aber auch fest entschlossen. Wir sind keine Herde mehr, die man mit Knüppeln in die Umzäunung treiben kann. Freunde, seien wir ja nur nie arrogant, ermahnen wir einander!“

Die halbe Million in Prag sang am Samstag statt Kampflieder ein leises nachdenkliches Volkslied, das ein Mann vor mehr als 50 Jahren liebte: der erste Präsident und Philosoph T.G. Masaryk.

Die hunderttausend in Bratislava riefen wiederholt in Sprechchören das Wort „Laaaska“ - „Liiiebe“!

Welch eine Generation ist vorige Woche der Tschechoslowakei und Europa erwachsen!

Pavel Kohout, Viden, am 26.November 1989