„Wir repräsentieren die ganze Nation“

Vier Arbeiter eines Prager Maschinenbaubetriebes zur Streikbereitschaft, zur führenden Rolle der Partei und zur Bestrafung der Verantwortlichen vom 17. November  ■ I N T E R V I E W

taz: Um zwölf Uhr beginnt der zweistündige landesweite Generalstreik. Werden im ganzen Betrieb die Räder stillstehen?

Martin Skala: Die überwiegende Mehrheit wird streiken. Nur die Betriebsleitung, die Führung der Gewerkschaft und der Partei haben sich gegen den Streik ausgesprochen.

Was veranlaßt euch dazu, die Forderungen des Bürgerforums und der StudentInnen zu unterstützen?

Jiri Krivanek: Ich denke, daß alle Tschechen den Streik unterstützen. Er ist nötig, damit die Führung unserer Partei, die Führung unseres Staates weiß, wie stark und wie viele wir sind. Wir repräsentieren die ganze Nation.

Am Mittwoch letzter Woche habt ihr auf einer Betriebsversammlung über den Streik diskutiert. Wie verlief die Debatte?

Melan Tostesel: Zunächst muß man festhalten, daß fast alle Betriebsangehörigen, das heißt Arbeiter und Angestellte, insgesamt circa 1.200 Leute, anwesend waren. Nur die Mitglieder von Partei und Volksmiliz verließen den Betrieb, und auch sie nicht geschlossen. Zunächst wurde die Resolution der streikenden StudentInnen verlesen, danach die eigene. Die Organisatoren schlugen vor, den Generalstreik zu unterstützen. Damit keine ökonomischen Verluste entstehen, haben alle sich bereiterklärt, vier Stunden zusätzlich zu arbeiten, das heißt zwei Stunden länger, als der Generalstreik dauern wird.

Außer der Betriebsleitung war vor allem eine Gruppe alter Stalinisten gegen den Streik. Sie haben ihr ganzes Leben Vorteile genossen. Jetzt gelingt es ihnen nicht, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß sie abdanken könnten. Zu der unbedeutenden Minderheit, die gegen uns ist, zählen Angehörige der Volksmiliz, die für die Brutalitäten bei den Demonstrationen zum Todestag Jan Palachs im Januar verantwortlich sind.

Werdet ihr zwischen 12 und 14 Uhr eine Betriebsversammlung abhalten?

Vaclav Svoboda: Zuerst haben wir uns überlegt, in dieser Zeit über die politische Lage in unserem Land zu diskutieren. Wahrscheinlicher jedoch ist, daß wir auf dem Wenzelsplatz oder auch in unserem Stadtteil demonstrieren werden. Auf alle Fälle hängen wir in den Produktionshallen Transparente und Staatsflaggen aus.

Wie wird euer weiteres Vorgehen aussehen, wenn die Führung von Partei und Staat die Forderungen des Bürgerforums auch nach dem Generalstreik nicht erfüllt?

Martin Skala: Dann werden die Streikkomitees nicht aufgelöst. Dann warten wir auf weitere Beschlüsse des Bürgerforums. Wir sind auch bereit, einen ganzen Tag zu streiken. Voraussichtlich werden das viele Leute ablehnen. Die deutliche Mehrheit wird dennoch für einen solchen Streik sein.

Jiri Krivanek: Ich denke, daß die Menschen in den vergangenen 40 Jahren verlernt haben, zu denken. Sie haben verlernt, frei zu leben. Sie wissen nicht mehr, daß sie auch selbst entscheiden müssen und nicht immer nur auf die übergeordneten Organe hören sollten. Selbst denken und für unser Recht kämpfen, das haben wir verlernt und müssen es jetzt wieder lernen. Im Bewußtsein der Leute ist dies auch jetzt noch nicht verankert. Immer mehr Menschen verstehen es aber, und die stehen hinter uns.

Was sind eure wichtigsten Forderungen?

Vaclav Svoboda: Der Grundsatz der führenden Rolle der Partei muß aus der Verfassung gestrichen werden. Gleich danach müssen dann freie Wahlen abgehalten werden. Davon hängt alles weitere ab. Aber auch die Bestrafung der Verantwortlichen der Polizeiübergriffe vom 17.November und vom vergangenen Januar ist unbedingt notwendig.

Interview: Katerina Wolf