Die Konstituierung der Gegenmacht

Dr. Vilem Precan, Direktor des Dokumentationszentrums zur Förderung der unabhängigen tschechoslowakischen Literatur, ist seit 1976 im Exil in der BRD.  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Precan, Sie lagen ja bei unserem letzten Gespräch (taz vom 20.11.) eindeutig richtig mit Ihrer These, nach dem Polizeieinsatz in Prag seien alle gesellschaftlichen Gruppen in Zugzwang geraten. Sehen Sie in den jüngsten Personalentscheidungen - dem Sturz des Prager Parteichefs Miroslav Stepan und anderen in der KPC - und den letzten Entwicklungen in der Tschechoslowakei nun den endgültigen Durchbruch für die Reform des Systems?

Vilem Precan: Der Durchbruch für die weitere Entwicklung der demokratischen Revolution - und ich sage bewußt demokratische Revolution und nicht Reform - in der CSSR ist eigentlich schon am letzten Freitag geschafft worden. Ich bin begeistert von der Art dieser Revolution, von der Friedfertigkeit, von der gegenseitigen Rücksicht, von der Veränderung der mürrischen Gesichter. Es ist eine moralische Revolution. Diese demokratische Revolution bringt eine moralische Besinnung hervor. Die Parole, in der Wahrheit und nicht in der Lüge leben zu wollen, ist jetzt Programm. Und für so eine Entwicklung gibt es kein Beispiel in unserem Land, außer der von 1968. Man kann heute von der Geburt einer Gesellschaft mündiger Bürger in der CSSR sprechen. Nicht nur die Kinder, vor allem die Mitglieder der älteren Generation wollen die Brücken, die sie mit dem Alten verbanden, jetzt hinter sich lassen. In dieser Lage gossen die halben Maßnahmen der Beschlüsse des ZK nur Öl ins Feuer. Und es kam dann zu einem Aufstand der Parteibasis. Deshalb mußte eine neue Parteisitzung einberufen werden.

Es ist doch erstaunlich: Wir haben alle, hier im Westen, aber auch die Oppositionellen in Prag und Bratislava, die Situation in der Partei so analysiert, daß wir sagten, da ist doch kein Reformflügel mehr.

Das stimmt ja immer noch. Es gibt keinen formierten, strukturierten Reformflügel. Aber es gibt in dieser Partei auch Hunderttausende anständiger Leute, Menschen, denen es wie allen in der Gesellschaft geht. Das ZK versuchte nun zu retten, was zu retten ist. Eine gewisse Rolle mag auch gespielt haben, was an Einschätzung der Lage aus Moskau kam. Als dort von den berechtigten Forderungen der Demonstranten gesprochen wurde und von der Unfähigkeit der Führung, die Probleme des Landes zu lösen, muß der Schreck Milos Jakes in die Glieder gefahren sein. Wenn in der 'Prawda‘ vom Montag sogar zu lesen ist, daß jetzt die stalinistischen Strukturen in der CSSR beseitigt würden, dann kann man sich leicht vorstellen, was in den Köpfen der alten Führung vor sich geht; und auch in denen der Parteisekretäre in Stadt und Land, also bei allen Funktionären; viele werden sich verraten fühlen. In der Bevölkerung nimmt man inzwischen nur noch zur Kenntnis, was in der Partei vorgeht, aber es ist eigentlich nicht mehr wichtig. Am Sonntag hing ein Transparent an einem Theater: „Alle Theater sind in einem Streik, nur die KPC spielt weiter.“ Da ist eigentlich alles gesagt, was sich am Freitag bis Sonntag in der Partei abgespielt hat.

(lacht herzlichst) Gehen wir mal zur Opposition...

Moment, es ist jetzt wirklich schwierig, von einer Opposition zu sprechen. Ich zweifle, ob der Begriff noch richtig ist. Es handelt sich jetzt um die politisch artikulierten Elemente einer „civil society“.

Mich rührt, wie schon in der DDR, die Führungsrolle der Künstler und Intellektuellen. Schriftsteller und Schauspieler haben die Initiative.

So überraschend ist das auch nicht, das war in Böhmen schon immer so. Wichtig war, daß sich in einem bestimmten Moment, und das hat angefangen in der Jan Palach-Woche im Januar, Schauspieler und Künstler zu Wort meldeten - bekannte und populäre Namen waren darunter - die nicht von der Staatsmacht belangt werden konnten. Aber heute sind alle Schichten dabei, auch die Arbeiter. Schon am Donnerstag voriger Woche zeigte sich das. Beim Generalstreik gab es wohl auf dem Lande noch Schwierigkeiten, weil dort einige Funktionäre den Streik mit den Arbeitermilizen zu behindern versuchten.

Aber das sind nur Randerscheinungen. Was mich überrascht hat, ist die politische Reife, das Können, das meisterhafte Vorgehen des Bürgerforums und der anderen Gruppierungen, der Studentenkomitees. Inzwischen, und das ist besonders wichtig, sind Bürgerforen in Orten, in Betrieben bis hin zum Rundfunk entstanden, eine Vernetzung vertikaler und horizontaler Art im ganzen Land.

Das bedeutet die Konstituierung einer echten Gegenmacht.

Ja natürlich. Besonders beeindruckt hat mich auch die Person Vaclav Havels. Wie er an jedem Tag mit seinen kurzgefaßten Ansprachen genau die Lage analysierte und die weiteren Forderungen stellte, war schon bewundernswert. Wenn ich dann in einer altehrwürdigen Zeitung aus Frankfurt lese, der Opposition sei das politische Geschäft fremd, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Es ist jetzt zu einem dauerhaften Streik aufgerufen. Die Forderungen Havels laufen auf eine Übergangsphase vom totalitären Regime zu einem pluralistischen System hinaus. Die einzelnen Schritte werden diskutiert. Nicht länger ist die Partei Ansprechpartner, es ist die Regierung. In den nächsten Schritten muß die führende Rolle der KP aus der Verfassung gestrichen und Rechtssicherheit sowie ein Pressegesetz entwickelt werden.

Interview: Erich Rathfelder