Generalstreik statt Brotzeit

■ Fast eine Million war gestern in Prag dabei / Protest gegen die KP, ohne die Produktion lahmzulegen

Auch ohne den Segen von Ministerpräsident Adamec, in letzter Minute erteilt, wäre der Aufruf der Studenten zum zweistündigen Generalstreik wohl nicht weniger erfolgreich gewesen. Hatte es noch vor wenigen Wochen so ausgesehen, als seien die mit Skoda und Landhaus zufriedenen Arbeiter nicht auf die Straße zu bringen, so zogen gestern ganze Belegschaften zum Wenzelsplatz...um allerdings pünktlich zur Nachmittagsschicht wieder an den Maschinen zu stehen. Demonstrationen wurden auch aus Bratislava, Brnjo, Ostrava und Kosice gemeldet. Selbst der staatliche Rundfunk unterbrach sein Programm, und die amtliche Nachrichtenagentur 'ctk‘ ließ die Ticker für eine Viertelstunde stillstehen.

Es müssen fast eine Million Menschen gewesen sein, die sich gestern mittag dem Aufruf der Prager Studenten zu einem zweistündigen Generalstreik zwischen zwölf und vierzehn Uhr angeschlossen haben. Schon am späten Vormittag zogen ganze Arbeitskollektive von allen Seiten in Richtung Wenzelsplatz, der in einem Meer von Nationalflaggen und Transparenten badete.

Schaulustige an den Rändern grüßten mit dem Victory -Zeichen. Die meisten Prager waren gestern offenbar guter Dinge. Auch wenn die Akteure noch nicht so ganz glauben können, was sich da vor ihren Augen abspielt. Es ist schließlich auch schwer zu begreifen, in welch schwindelerregendem Tempo sich politische Rahmenbedingungen verändern, die man noch vor wenigen Wochen für unumstößlich gehalten hatte. Kein Zweifel, der Streik hat es gezeigt: Alle Schichten der Bevölkerung sind jetzt mit von der Partie.

Punkt zwölf Uhr traten alle Arbeiter der Prager Verkehrsbetriebe in den Streik. Die Straßenbahnen in der Innenstadt rollten keinen Meter weiter. Aus allen Ecken der winkligen Straßen ertönte ein ohrenbetäubendes Hupkonzert. Selbst die Fahrer der städtischen Krankentransporte ließen ihre Sirenen heulen für den Streik. Nicht einmal die Imbißverkäufer rund um den Wenzelsplatz ließen sich von den endlosen Schlangen Wartender beeindrucken. Die Rolläden fielen. Streik ist Streik.

Wie schon in den vergangenen Tagen zeigte sich auch gestern die Miliz überhaupt nicht auf den Straßen. Mit Ausnahme eines einsamen Polizeiwagens, der einem hupenden Taxikorso am Ende folgte, und der prompt laut beklatscht wurde. Ansonsten kein Feldgrün in der ganzen Stadt. Ordner stellten die Streikkomitees der Studenten sowie Mitglieder des Jugendverbandes SSM der tschechoslowakischen Partei der Kommunisten, der sich schon seit längerem von der Bevormundung durch die KP zu befreien versucht. Sein Vorsitzender Mohorita war gerade in der Nacht zuvor vom Zentralkomitee der KPTsch ins Politbüro gewählt worden. In der Tat ist seine Reputation auch bei Nicht -Parteimitgliedern nicht allzu schlecht. Anscheinend soll er zur Gallionsfigur einer Partei erkoren werden, die mit allem Nachdruck ihre Erneuerungsfähigkeit unter Beweis stellen will.

Ob sie dazu noch eine Chance bekommt, ist jedoch mehr als fraglich. Das beherrschende Thema dieses Massenausstandes war die führende Rolle der Partei. Auf Tausenden von Spruchbändern und an fast jedem Schaufenster der Stadt stand zu lesen: „konce vlady jedne strany“ - Schluß mit der Einparteienherrschaft. Vertreter der Opposition hatten schon am Wochenende zu verstehen gegeben, worum es ihnen mit dem Generalstreik geht: Eine Volksabstimmung gegen die führende Rolle der Partei sollte er werden. Und er war es. Vorher hatte man noch befürchtet, die Arbeiter würden sich möglicherweise nicht anschließen, doch das ist zumindest in Prag nicht eingetroffen. Auch ein Streikkomitee der traditionsreichen Skodawerke marschierte durch die Straßen. Eigenartig, auch bei dieser Aktion der Basis hielten sich die Demonstranten an jahrelang vom Regime eingeübte Rituale: Auf Transparenten trugen sie Fabriknamen und Herkunftsort vorweg, gerade wie zum ersten Mai.

Nur wenige Geschäfte waren an diesem Mittag geöffnet. In einem Frisiersalon der Altstadt schmorte noch eine ältere Frau unter der Dauerwellenhaube, während aus dem staatlichen Plattenladen „Supraphon“ gegenüber Dvoraks Symphonie „Neue Welt“ schepperte. Ein bißchen zukunftsweisender Optimismus vielleicht, den sonst nur noch die Drei- und Vierjährigen eines Kindergartens so unbekümmert zeigten. Sie winkten aus dem Fenster, grüßten mit gespreiztem Daumen und Zeigefinger, kreischten durcheinander: „Svoboda“ - Freiheit! Wie ihre Großeltern vor 22 Jahren.

Schon kurz nach 13 Uhr löste sich die Versammlung auf dem Wenzelsplatz auf, ein geordneter Rückweg begann. Schließlich wollen alle bis 14 Uhr wollten wieder an ihrer Arbeit sein. Ganz im Sinne von Ministerpräsident Adamec, der sich noch am Vorabend - wohl gegen die Mehrheit seiner Partei - unter einer Voraussetzung hinter den Streikaufruf gestellt hatte: ökonomischen Schaden dürfe er nicht anrichten. Da der Streik in die Mittagspause fiel, wird das nicht der einzige Grund seiner Bedenken gewesen sein. Und überhaupt hätte er sich diesen Hinweis sparen können, denn nichts liegt den Tschechen und Slowaken ferner, als den relativen Wohlstand, den sie auch noch in dieser Krisensituation genießen, aufs Spiel zu setzen. Darauf halten sich alle etwas zugute - von den Kommunisten bis zur Opposition.

Weiter streiken werden nur die Studenten. Bis ihre Forderungen erfüllt sind, mindestens aber bis zum Jahrestag des Todes von Jan Palach am 20.Januar. Um jedoch keinen Unmut als Faulenzer zu erregen, „stellen wir aber“, so erklärte ein Student, „unsere Arbeitskraft gesellschaftlichen Aufgaben zur Verfügung!“

Klaus-Helge Donath, Prag