Zwanzig Jahre politischen Verfalls

■ Zur Vorgeschichte des reformerischen Aufbruchs: der Prager Frühling und die Folgen seiner Zerschlagung

Unter der Führung der UdSSR wurde den Armeen der „Bruderstaaten“ in der Nacht zum 21. August 1968 der Marschbefehl erteilt, dem demokratischen Experiment in der CSSR mit Gewalt ein Ende zu bereiten. Die neue alte Führung hielt zwar zunächst an der Reformrhetorik fest, doch bald folgte die radikale Gleichschaltung aller politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Für die andauernde Repression diente das verbesserte Konsumangebot als Kompensation. Die tschechoslowakische Bevölkerung flüchtete sich ins Private. Erst nach zwei Jahrzehnten ist nun der Sturz der alten Vasallen erfolgt. Eine neue Generation, die die Demoralisierungen von 1968 nicht miterlebt hat, tritt auf die politische Bühne. Ihr ist es gelungen, die Intelligenz aus ihrer lähmenden Apathie herauszureißen, Studenten und Arbeiter unterstützen mehrheitlich die Forderungen des neugegründeten Bürgerforums nach Bestrafung der Verantwortlichen für die Polizeiübergriffe, nach Abschaffung des Grundsatzes der führenden Rolle der Partei und nach freien Wahlen.

Es war ein Akt historischer Gerechtigkeit, als Alexander Dubcek am Abend des vergangenen Freitag vor einer begeisterten Menschenmenge von einem Balkon am Prager Wenzelsplatz aus den Rücktritt der herrschenden Kollaborateure forderte. 21 Jahre der Repression und der Demütigung, des Zynismus und der Schizophrenie gingen damit zu Ende. Der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei war die bekannteste Symbolfigur jenes Prager Frühlings, der den ersten umfassenden Versuch einer demokratischen Erneuerung der stalinistisch -verkrusteten „sozialistischen“ Systeme bildete.

Anders als in Polen und Ungarn 1956 war die Initiative für die Demokratisierung der Tschechoslowakei im Jahre 1968 von der Partei ausgegangen. Dem Sturz des stalinistischen Parteichefs Novotny und der Wahl von Dubcek, der ein Kompromißkandidat war, ging ein Machtgekungel hinter verschlossenen Türen voraus - keine Volksbewegung. Und Moskau gab seinen Segen dazu. Erst in den folgenden Monaten wurden die Reformbemühungen von oben durch eine breite gesellschaftliche Demokratisierungsbewegung von unten ergänzt - getragen von der Intelligenz, von der Parteibasis und schließlich auch von den Arbeitern. Das war allerdings nicht im Sinne Breschnews und seiner Genossen. Warnungen, die im Ton immer schärfer wurden, gingen an die Prager Adresse. Als das nichts fruchtete, wurde beschlossen, diesem Experiment mit Gewalt ein Ende zu setzen.

Unter Führung der UdSSR wird den Armeen der „Bruderstaaten“ Bulgarien, DDR, Polen und Ungarn in der Nacht vom 20. auf den 21. August der Marschbefehl erteilt. 600.000 Soldaten, 7.000 Panzer und 1.000 Flugzeuge werden eingesetzt, um 15 Millionen TschechoslowakInnen einzuschüchtern. Das mißlingt anfänglich. Das gesamte Volk leistet Widerstand: es streikt, stellt die Besatzungssoldaten zur Rede, demontiert Wegweiser, Ortskennzeichen und Straßenschilder, verweigert jegliche Kooperation, ruft durch Untergrundsender zum Widerstand auf. Vereinzelt werden Barrikaden gebaut, am Wenzelsplatz gehen sowjetische Panzer in Flammen auf.

Radikale Gleichschaltung

Die Okkupanten finden keine Kollaborateure, die bereit wären, sich offen in ihre Dienste zu stellen. Sie sind gezwungen, mit den Führern der Reformbewegung, die sie gekidnappt und nach Moskau verschleppt haben, zu verhandeln. Das Ergebnis ist ein fauler Kompromiß: Die alte Führung bleibt im Amt, soll nun aber eine „Politik ohne Extreme“ betreiben. Dubcek und Genossen hoffen, auf diese Weise Schlimmeres zu verhüten. Die Volksbewegung wird zurückgedrängt und demoralisiert. An die Stelle des gesamtnationalen zivilen Widerstandes tritt das tiefe Gefühl enttäuschter Hoffnungen.

Im April 1969 glaubt die sowjetische Führung, das tschechoslowakische Volk - auch mit Hilfe etwa von Dubcek so entmutigt zu haben, daß sie auf Gallionsfiguren verzichten kann. Die kraftlos gewordenen Reformer werden durch die stalinistischen Kollaborateure um Gustav Husak abgelöst. Die neue alte Führung hält anfangs an der Reformrethorik fest. Es dauert noch bis Ende August 1969, bis Husak zum ersten Mal wagt, die Okkupation als „brüderliche Hilfe“ zu bezeichnen. Erst dann wird diese Lüge zur offiziellen Interpretation der Ereignisse durch die KPTsch.

Demonstrationen und Zusammenstöße anläßlich des ersten Jahrestages der Okkupation werden schließlich zum Vorwand genommen, um eine neue, sehr viel repressivere Phase der „Normalisierung“ einzuleiten, die radikale Gleichschaltung aller politischen und gesellschaftlichen Institutionen. In einem „Säuberung“ genannten Akt von politisch-kulturellem Vandalismus werden alle diejenigen aus ihren Ämtern verjagt, die ihre früheren Ideale nicht verraten. Ein Heer von Gesinnungspolizisten wird auf das Volk losgelassen, die von jedem, der sich im Prager Frühling engagiert hatte, Widerruf und Selbstbezichtigung verlangen. Sehr viele machen dabei nicht mit, verlieren ihre berufliche Existenz, und ganze Berufszweige veröden.

Säuberungen

Das beginnt bei der Partei selbst, aus der etwa ein Viertel aller Mitglieder, ca. 400.000 Menschen, ausgeschlossen werden. 40 Prozent aller Journalisten erhalten Berufsverbot. Von den 590 Mitgliedern des tschechischen Schriftstellerverbandes erhalten 475 Publikationsverbot. Besondere Aufmerksamkeit gilt den im damaligen Jargon als „Nestor der Rechten“ bezeichneten Institutionen: 80 Prozent der Vorsitzenden wissenschaftlicher Kollegien und die meisten Direktoren wissenschaftlicher Institute werden abgelöst, ebenso die gesamte Leitung des Filmwesens und die Direktoren und künstlerischen Leiter fast aller Theater.

Die Entfernung aus dem Amt oder aus dem Verband bedeutet fast immer Berufsverbot. Die ehemaligen Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler und Parteifunktionäre müssen sich, soweit sie nicht ins Ausland flüchten, als Pförtner, Straßenbahnschaffner und Forstarbeiter verdingen.

Im Herrschaftssystem verbleiben Stalinisten, skrupellose Karrieristen und einzelne Technokraten. Von ihrer Koalition wird künftig das Land politisch-moralisch, ökologisch und ökonomisch heruntergewirtschaftet. Herrschaftsmittel sind neben andauernder Repression vor allem verbesserte Konsumangebote. In der Bevölkerung macht sich politische Apathie und Flucht ins Private breit.

Diese desolate Situation verändert sich Mitte der 80er Jahre durch zwei Faktoren: Mit dem reformerischen Umbruch in der Sowjetunion entfallen die äußeren Rahmenbedingungen stalinistischer Politik in der Tschechoslowakei. Die Husak, Bilak u.a. sind nicht länger mehr Statthalter sowjetischer Interessen, sondern schaden diesen Interessen im Gegenteil, weil sie die Glaubwürdigkeit des „neuen Denkens“ unterminieren.

Seit Anfang 1987 haben die Technokraten in der Führung deshalb versucht, ihre stalinistischen Koalitionspartner loszuwerden - ohne Erfolg. Es mußte noch ein zweiter Faktor hinzukommen: Eine neue politische Generation, die die demoralisierende Niederlage von 1968/69 nicht selbst erlebt hat und die von ihren Müttern und Vätern nur die Verachtung für die Quislinge an der Macht geerbt hat, mußte auf die Bühne treten.

Seit den Demonstrationen zum 20. Jahrestag der Okkupation im August 1988 ist diese Generation sichtbar in Bewegung geraten, und es ist ihr gelungen, die Intelligenz aus ihrer politischen Lethargie herauszureißen. Die Massenmobilisierung in der DDR und der Sturz der Stalinisten in Ost-Berlin, der letzten Vasallen der Jakes, Husak u.a. mehr, war dann wohl das Zeichen dafür, daß die Zeit nun für einen Durchbruch reif ist.

Walter Süß