Mutmaßungen über Hans N.

■ Taz-Interpretationskurs: Wie an der Freien Volksbühne ein Skandal inszeniert wird

Folgendes finstersinnige Fax mit der Bitte um baldmöglichste Veröffentlichung erreichte uns aus dem Theater der Freien Voklksbühne: „Um die Aufführung des Stückes MARAT/SADE von Peter Weiss nicht ohne die kritische und interessierte Öffentlichkeit abzusetzen, hat sich die Intendanz der Freien Volksbühne entschlossen, die Arbeit des Ensembles und der Regie für alle Interessierten am 2. und 3. Dezember 1989 kostenlos zur Diskussion zu stellen. Die Aufführung beginnt um 21 Uhr und endet um 22.15 Uhr. Im Anschluß an die Aufführung besteht Gelegenheit zur Diskussion. Für bereits gelöste Kaufkarten wird der Preis an der Tageskasse erstattet.“

Eigentlich sollte am Samstag die feierliche Exhumierung des fast in der Versenkung verschwundenen Staub-Stückes „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielguppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade“ in der Regie des grundsoliden Regisseurs Klaus Emmerich Premiere haben.

Und jetzt? Erste Möglichkeit: Kurz vor der Premiere hat sich der Noch-Herrscher über die Volksbühnen-Familie, Hans Neuenfels, zwecks Begutachtung einen Stück-Durchlauf angesehen. Zwingendes Ergebnis: Die Inszenierung mißfällt, denn sie ist ja nicht von Neuenfels, und Elisabeth Trissennaar spielt auch nicht mit. Der Intendant schäumt, der Regisseur stellt demonstrativ seinen Koffer zum Pförtner. Dann sagt der Intendant dem Regisseur wo's lang geht, was dieser mit der obligatorischen: „Ich rrrrreise ab!„-Exklamation beantwortet. Regisseur ab. Die Premiere wird verschoben, und der Hausherr inszeniert den Bühnen -Bastard schnell um. Das wäre also ganz normal, aber so kann es nicht gewesen sein.

Zweite Möglichkeit: Die Inszenierung mag sein wie sie will, das spielt ohnehin keine Rolle mehr. Denn: seit Monaten steht das Haus leer, lange ward kein Freiwilliger mehr im Zuschauerraum gesichtet. Weshalb die Karten ohnehin blockweise an irgendwelche Einsatzgruppen verschenkt werden. „Also“, mag sich der PR-Virtuose Neuenfels gedacht haben, „legalize it!“ Und zwar möglichst im Rahmen eines Maßnahmenpaketes zur akuten Skandalsicherung.

Ein Stück absetzen - wann hatte es das zum letzten Mal gegeben. „Absetzen“ - wie das schon klingt. Kein Zweifel, hier muß eine Kombination aus Hermann Nitsch und Otto Mühl in Klausi-Mausi-Emmerich-Gestalt zugeschlagen haben. Diese Inszenierung dennoch der „kritischen und interessierten Öffentlichkeit“ zu zeigen - hier weht der weltläufige Geist von Fassbinder und Frankfurt, hier winkt „Der Müll, die Stadt und der Tod“, hier wird Legende live versprochen.

Die Volksbühne wird am Wochenende so voll sein wie lange nicht. Und sollte das Stück wirklich abgesetzt werden - dann ist sie eben so leer wie vorher.

Gabriele Riedle