Das Neue ist das Alte

■ Musketier Erich Kuby zwanzig Jahre danach

Der Artikel, den die taz ausgegraben hat, läßt sich auf etwa 1960 datieren. Sollte ich aus dem Abstand von nahezu 30 Jahren diesen Text einer kritischen Beurteilung unterziehen, so würde ich vor allem sagen, meine Uhr sei, wie bei mir üblich, vorgegangen. Wenn ich damals schrieb, es beginne mit der großen „Desillusionierung“ eine neue Repolitisierung des Volkes, dann weiß ich, dann wissen wir heute, daß die letztere noch bis in die achtziger Jahre auf sich warten ließ, und sie gerade nicht das Resultat von „Desillusionierung“ ist, sondern der Wiedererweckung alter deutscher Machtträume. Sie sind nun vorwiegend gerichtet auf die „Wiedervereinigung“ (Herstellung der alten Reichsherrlichkeit), die als Ausbreitung des kapitalistischen Systems und der 'Bild'-Zeitung bis an die Grenzen von 1937 stattzufinden habe.

Ich betrachtete die gesellschaftlichen Begleiterscheinungen des „Wirtschaftswunders“ stets mit Argwohn, ja Abscheu, es war aber die Bevölkerung der BRD in ihrer Wohlstandsbesoffenheit politisch gesehen eine eher harmlose Spielform deutschen Wesens. Ein paar Jahrzehnte lang war sich unser Volk selbst entlaufen, wenn es auch nie an Narren gefehlt hat, die uns aufforderten, wir sollten doch um Gottes willen in unsere „nationale Identität“ zurückfinden, stolz sein, einfach weil wir Deutsche seien, stolz und patriotisch wie gehabt. Das predigt neuerdings sogar unser Bundespräsident, obschon er gewiß kein Radikaler auf dem rechten Flügel ist. Politischer Schwachsinn ist nicht mehr das Privileg der Rechtsausleger.

Um in dieser Richtung Fortschritte zu erzielen, war es notwendig, die „Endlösung“ als ein einzigartiges, ganz und gar deutsches Verbrechen, das sie ist, aus dem öffentlichen Bewußtsein zu tilgen und den Nachweis zu führen, Auschwitz sei kein nationales Monopolunternehmen gewesen, an Vorbildern und Parallelaktionen habe es nie gemangelt. Der sogenannte „Historikerstreit“, eine eminent politische, heimtückische, zutiefst verlogene Machenschaft reaktionärer Weißwäscher, hat hier Pionierarbeit geleistet. Ohne ihn nicht so rasch und nicht so frech die Schönhuberei!

Oh gewiß, Veränderung, aber nicht als Fortschritt, sondern als Aufbruch nach rückwärts, und zwar ein ganz allgemeiner in den verschiedensten Schattierungen. Auch das erbärmliche Wahrbild der SPD ist ein Reflex davon. Es handelt sich um die „Normalisierung“ der Mehrheit jener Deutschen, die Bürger der BRD sind. Als ich meine deutschen Schattenspiele in den Jahren 1986/87 schrieb, vorgelegt 1988, war der Prozeß erneuter „Selbstfindung“ bereits so weit fortgeschritten, daß ich mir darüber klar werden konnte, es gebe „deutsche Konstanten“, eher ein psychisches als ein politisches Phänomen, dem Angst zugrunde liegt. Wir sind ein von Angst gesteuertes Volk. Dafür eine bündige, aus der Geschichte zu gewinnende Erklärung zu finden, ist nahezu unmöglich, weshalb gelernte Historiker die Weisungskraft von „Konstanten“ heftig bestreiten werden; wer sie aber nicht erkennt, wird nicht verstehen können, daß uns nicht einmal der Verlust eigener Staatlichkeit zu Europäern zu machen vermochte, ja, wird deutsche Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts beschreiben, aber nicht verstehen können. (Allenfalls läßt sich die Angst auf unsere Mittellage zurückführen, auf die nach Ost und West offenen Grenzen, woraus sich ein Gefühl ständigen Bedrohtseins entwickelte, und auf den Dreißigjährigen Krieg, der nur knapp 5 Millionen Deutsche übriggelassen hat.)

Die Kompensation dieser Angst ist Aggression, wenn wir über Macht verfügen, (und kriecherischer Servilismus, wenn wir sie schuldhaft eingebüßt haben, vorgeführt nach dem Zweiten Weltkrieg). In 75 Jahren haben wir drei gewöhnliche und zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen, den ersten mit einer imperialistischen Motiviation, den zweiten mit einer missionarischen. Die Französische Revolution hat für uns nicht stattgefunden (nur eine hauchdünne Oberschicht von Intellektuellen hat sie zunächst gefeiert, sodann auch verabscheut). In dem, was ich 1960 schrieb, west der Optimismus, unser Volk sei nach so harter Belehrung imstande, sich an die Kette der Vernunft zu legen. Damit ist Schluß. Bei Licht betrachtet, hätte schon damals für unsereinen damit Schluß sein müssen als deutscher Wahn, das Reich sei nicht untergegangen, der westliche Teilstaat sein einzig legitimer Nachfolger, zum Fundament einer provisorischen Staatlichkeit gemacht worden ist. Die „Konstanten“ regulieren (ich zitiere jetzt aus den Schattenspielen) „Vorstellungen und Tendenzen einer Mehrheit im Glück. Darin addieren sich Überheblichkeit, Selbstvergottung, Realitätsverlust, Brutalität, Fremdenhaß mit zynisch sich äußernder Verachtung für Recht, Freiheit und Gerechtigkeit, die als Schwächezeichen interpretiert werden.“ Die Vorgänge in diesem Herbst, die DDR betreffend, die sogenannten „Flüchtlinge“ - das sind mir schöne Flüchtlinge, die im eigenen Auto abreisen können! - und die Analysen dieser Ereignisse in den Medien sind eine wahrhaft schauderhafte Bestätigung der „Konstanten“.

Wir werden keinen Weltkrieg mehr auf nationale Rechnung entfesseln können, die Bundeswehr wird zum Bedauern vieler nicht die verlorenen Ostgebiete zurückholen dürfen. Wir wollen nur mit feineren Mitteln die DDR zerstören und einkassieren (nur gerade jetzt nicht!) und den Anspruch auf dieses Stück Polen nicht fallen lassen. Auch der Aufbau einer Europa beherrschenden Wirtschaftsmacht ist ja nicht von Pappe. Für diese Ziele wird die BRD als Überwachungs und Polizeistaat perfektioniert. Daß wir in den neunziger Jahren durch übergreifende Marktregelungen und Sozialvorschriften zu Europäern, zu Gleichen unter Gleichen ohne Führungsanspruch werden, kann nur einer glauben, der zweihundert Jahre, aber was sage ich, der fünfhundert Jahre deutscher Geschichte nicht zur Kenntnis genommen hat, und „Auschwitz“ nur für eine leider etwas peinliche Entgleisung ansieht. Was über dieses künftige „Europa“ salbadert wird, ist Tarnung hegemonialer Zielvorstellungen. Das Neue ist das Alte.