Ende der „friedlichen Revolution“?

■ Westliche Auflagen lassen Militärputsch in der UdSSR drohen / Eine Fiktion vom Mai 1990

Brüssel (taz) - Fast zehntausend Menschen haben sich an den Kämpfen zwischen armenischen und aserbeidschanischen Volksverbänden in der letzten Woche beteiligt. Erstmals bestätigte ein sowjetischer Militärsprecher am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Moskau Gerüchte über die mit großer Brutalität geführten Auseinandersetzungen im südlichen Teil der Sowjetunion. Damit ist nach Jugoslawien und Rumänien in einer dritten Region der sowjetischen Einflußsphäre Bürgerkrieg zum tödlichen Alltag geworden. In der jugoslawischen Provinz Kosovo starben bei Kämpfen zwischen der stalinistischen Militärfraktion um den serbischen Parteiführer Milosevic und albanischstämmigen Separatisten in den letzten Tagen mehr als 100 Menschen. Der rumänische „Erlöser der Erde“, Conducator Ceausescu, ließ am Wochenende in der rumänisch-bulgarischen Grenzstadt Bechetu 56 Aufständische hinrichten.

Nach der Anti-Gorbatschow-Kundgebung in Leningrad, an der mehr als 200.000 Menschen teilnahmen, mehren sich jetzt auch in der sowjetischen Hauptstadt Hinweise, daß mit einem baldigen Militärputsch zu rechnen ist. „Unsere Geduld ist zu Ende“, schrieb Gorbatschows ehemaliger Vertrauter Gerassimow Anfang letzter Woche im Parteiblatt 'Prawda‘. Glasnost und Perestroika hätten nicht die erwarteten Erfolge in der Wirtschaftsreform gebracht. Im Gegenteil: „Die Wirtschaft ist paralysiert. Vor dem Hintergrund der sich dramatisch verschlechternden Versorgungslage haben nationalistische Kräfte die Oberhand gewonnen, die jetzt den Untergang des Sowjetreichs sowohl von innen als von außen vorbereiten. Das zu verhindern, ist die zentrale Aufgabe der Roten Armee. Politiker, die einer Mobilisierung des Militärs im Wege stehen, müssen abgesetzt werden - notfalls mit Gewalt“.

Schuld an dieser Entwicklung hat in großem Maße auch der Westen, sagte der polnische Politikwissenschaftler Zygmunt Radric auf der Konferenz „Europa am Scheideweg - kalter Krieg oder Bürgerkrieg“, die am Wochenende in Brüssel stattfand. Voller Euphorie habe Westeuropa noch vor einem halben Jahr nach den Massendemonstrationen in der DDR und der CSSR die „friedliche Revolution“ in Mittel- und Osteuropa im Fernsehen verfolgt.

Doch Hilfestellungen im benötigten Umfang seien damals unterblieben. Statt dessen stellten die westlichen Regierungen politische Bedingungen, die bestenfalls das Resultat, aber auf keinen Fall Ausgangspunkt eines durch wirtschaftliche Hilfe geförderten gesellschaftlichen Prozesses hätten sein können. Die ökonomische Gängelung durch den IWF verschlechterte die ohnehin geringe Chance für einen Demokratisierungsprozeß in den meisten Ländern Mittel und Osteuropas. Doch gegen diese Politik regte sich im Westen kaum Widerstand, nicht zuletzt, weil die Alternative

-bedingungslose Hilfe in großem Stil - den eigenen Lebensstandard verringert hätte.

Der Beschluß der westlichen Staaten, den größten Teil der Wirtschaftshilfe an IWF-Bedingungen zu knüpfen, bedeutete beispielsweise das Todesurteil für die Solidarnosc. Darauf hatte Solidarnosc-Führer Lech Walesa schon bei seinem Besuch in Washington im November 1989 hingewiesen. Dies änderte jedoch nichts an der Haltung der US-Regierung. Erneute Lebensmittellieferungen schwächten zwar die katastrophale Notlage im letzten Winter ab, die enormen Preissteigerungen führten aber trotzdem erst zu einer Spaltung der Solidarnosc und anschließend zu Volksaufständen gegen die Solidarnosc -Regierung.

Radrics Kollege von den sowjetischen Grünen, Wladimir Sablenko, stellte die These auf, daß die Rüstungsmafia in der Nato und insbesondere in der US-Regierung von Anfang an die Destabilisierung Osteuropas angestrebt hätte. Nur so ließe sich erklären, daß trotz der positiven Erklärungen der westlichen Regierungen nur wenig geschehen sei, diese Entwicklung aufzuhalten.

Um seinen Vorwurf zu untermauern, führte Sablenko ein Beispiel an: Auf Druck des rechten Flügels zögerte die Bush -Regierung die Entscheidung über die Aufnahme der Sowjetunion in den IWF so lange hinaus, bis der Kreml den Antrag zurückzog. Damit war für die US-Hardliner die Gefahr gebannt, daß die Sowjetunion Einfluß auf die IWF-Politik auch hinsichtlich der mittel- und osteuropäischen Staaten hätte nehmen können. Gleichzeitig habe die Nato unverdrossen weiter aufgerüstet. Und nicht zuletzt die bundesdeutsche Rüstungsindustrie mit dem Daimler-Imperium an der Spitze sei bereit, die Waffen für einen erneuten Versuch zu liefern, Osteuropa zu „befrieden“.

Michael Bullard