Die Konfrontation beginnt erst

Bernard-Henri Levy über Berlin, BRD, DDR und Europa in West und Ost  ■ D O K U M E N T A T I O N

Vierzig Jahre Trennung. Vierzig Jahre unterschiedliche Kulturen, vierzig Jahre ideologische Konfrontation. Eine Welt, deren fundamentales Gesetz - so unvorhersehbar auch sonst alles sein mag - dies bleibt: In der Geschichte wiederholt sich nichts. Die Deutsche Demokratische Republik, wurde mir gesagt, hat ihre eigenen Grenzen, ihre eigenen Traditionen. Sie hat ihre Ursprungsmythen, ihre gemeinschaftlichen Grundlagen. Seit langem ist sie kein „künstlicher“ Staat mehr, der - Gott weiß warum - von den westlichen Beobachtern hofiert wird.

Es genügt zu lesen, zu hören, um zu wissen, daß die Rebellen von Berlin zwar Freiheitsrechte fordern, aber niemals darauf bestanden, mit ihren Brüdern und Schwestern im Westen in einem Staat zusammengeschlossen zu werden. Die Idee der Wiedervereinigung ist die Obsession aller Europäer mit Ausnahme der Meistinteressierten, der Deutschen selbst.

„Ihr Präsident Mitterrand“, erklärt mir Boris Kagarlitzky, „hat den Fehler begangen, zu früh darüber zu sprechen, sofort die Frage des einen Staates aufs Tapet zu bringen. Er ist damit verantwortlich dafür, daß wir die andere wirkliche Gefahr nicht sehen: nicht die des deutschen Staates, sondern die der deutschen Nation.“

Nach Moskau gehen und erfahren, was Madame de Stael schon wußte: Deutschland war immer zuerst eine Nation, erst dann ein Staat. Das Problem der Einheit hatte in der wirklichen Geschichte Deutschlands immer zuerst mit ersterem und erst dann mit dem Staat zu tun. Wenn in den jüngsten Ereignissen, zu deren Zentrum Berlin geworden ist, eine Gefahr liegt, so die dieses „Deutschland über alles“, das seit Jahrhunderten sich nicht um Grenzen und Staatssouveränität schert.

Was heißt das praktisch? Zunächst, daß das Europa, das wir kannten und dessen Horizont bis gestern der große Markt von 1992 war, gestorben ist, bevor es die Chance hatte, geboren zu werden. Simone Veil mag ihrem Traum anhängen. Valery Giscard d'Estaing kann vorschlagen, als sei nichts geschehen, die Deutsche Demokratische Republik im gemeinsamen Europa zu „negieren“. Französische und italienische Sozialisten können sich weiter eine „Erweiterung“ dieses Gebildes um all die Bruderländer, die an die Pforte klopfen, wünschen.

Die Wahrheit ist, daß all diese Anstrengungen zwar lobenswert sind, daß sie aber alle hinter den Ereignissen zurückbleiben. Sie sprechen von den beiden Europas - von Ost und West -, ohne zu sehen, daß diese reale und imaginäre Topographie vor unseren Augen zerfällt. Die Ereignisse in Ungarn, Polen und jetzt in Berlin spielen der Welt von Jalta ihr Requiem.

Aber wir müssen sofort hinzufügen, daß man nicht zur Lage vor dem Krieg zurückkehrt, sondern zu der Metternichs.

Ein konkretes Beispiel: die von Alain Minc so beeindruckend beschriebene überwältigende Präsenz westdeutschen Investitionskapitals in allen diesen sich von der totalitären Aufsicht befreienden Regionen. Ist das fatal? Läßt sich hier am Kräfteverhältnis nichts ändern?

Ein anderes Beispiel. Eine kleine Meldung aus der sowjetischen Presse, veröffentlicht an dem Tag, an dem der Zusammenbruch der Mauer publiziert wurde: An den ungarischen Schulen löst das Deutsche das Russische als erste Pflichtfremdsprache ab.

Noch ein Beispiel: all diese Nationalismen, dieser Stammesstolz, der vom Kommunismus erstickt wurde und der jetzt glaubt, wieder an die Freiheit kommen zu können. Werden die neuen „Nationalismen“ in Chauvinismus umkippen? In Fremdenfeindlichkeit? Werden die neuen „Nationalitäten“ wieder zu all diesen Mikrokonflikten führen, die einst das Habsburgerreich ruinierten?

Zentraleuropa, krankes Europa. Zentraleuropa, Sturmzone. Niemand kann heute voraussagen, ob der freiheitliche Wind, der heute aus dem Osten weht, den Fortschritt oder die Regression bringt. Jedenfalls kann man sich freuen, jubeln, tanzen auf der Mauer in Berlin oder in den Straßen Leipzigs und Dresdens, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, sich dem Problem zu stellen.

Mit anderen Worten, alles hängt davon ab, in welcher Gestalt diese älteste Wirklichkeit, Mitteleuropa genannt, wiedererscheinen wird. Seit Jahren diskutieren die Schriftsteller darüber. Auf der einen Seite Leute wie Kundera, aber auch Milosz und Kis, die es als ein ideales, fast immaterielles Land betrachten, als den Ort, an dem imaginär Musil, Kafka und die Prager Schule zusammenfließen.

Auf der anderen Seite die Pessimisten. Györgi Konrad und Habermas, die vor allem an den von den deutschen dominierten „Völkerkerker“, der von Streit und Hader zerbrochen wurde, sich erinnert fühlen.

Wer hat recht: Kundera oder Habermas? Wird Zentraleuropa ein Ort großer Kultur oder einer der Barbarei?

Wird Mitteleuropa zur Region des Geistes, dessen Sehnsucht nach Broch und Kafka geht, oder wird es zur Wiege einer Romantik, deren jüngste Formen die Ökologie, die Ablehnung der Technik oder sogar bestimmte Formen des „Sozialismus“ sind?

Das wirkliche Ereignis ist, daß jetzt nicht mehr nur die Schriftsteller darüber diskutieren. Das Thema ist aus dem engen Kreis der Akademien auf die Straßen und Plätze gegangen. Jetzt haben die Völker das letzte Wort. Ein Dilemma, ein kulturelles, sicher. In Wahrheit aber eine Konfrontation Mann gegen Mann zwischen zwei Kulturen, für die das neue Europa zu einer Herausforderung geworden ist.

Ich bitte um Entschuldigung, aber diese Konfrontation scheint mir für die Zukunft viel wichtiger als die „Wiedervereinigung“, an die niemand glaubt, oder der Zusammenbruch des Kommunismus, der, wie fast jeder spürt, fast schon vollzogen ist.

'Corriere della Sera‘ vom 21.11.89