Vor einem finsteren Wahlkampf

Zur gestrigen Wiedervereinigungsdebatte im Bundestag  ■ K O M M E N T A R E

Wenn hüben wie drüben vor der Wiedervereinigungsrhetorik gewarnt wird, polemisch von kritischen Geistern der Bundesrepublik, höflich und bestimmt von der DDR-Opposition, dann geht es nicht um einen abstrakten Antinationalis mus. Es geht um die Verteidigung einer konkreten historischen Möglichkeit: um die auf deutschem Boden einzigartige Chance einer Demokratie von unten, um die Möglichkeit eines großen gesellschaftlichen Experiments, zu dem das DDR-Volk auf den Trümmern des Realsozialismus gezwungen ist, und es geht auch um den Impuls einer antiautoritären Emanzipation der DDR, den unsere bundesrepublikanische Gesellschaft so nötig braucht wie Luft zum Atmen. Jeder oktroyierte Nationalstaatsgedanke würgt diese Möglichkeiten ab. Um so bedauerlicher, daß die Grünen, die als einzige keine Angst haben müssen, als „vaterlandslose Geselle“ dazustehen, die gestrige Haushaltsdebatte, die eine Wiedervereinigungsdebatte war, nicht nutzen konnten. Schlimm, daß sie nicht den innerparteilichen Mut haben, ihre besten Köpfe aufzubieten. Frau Oesterle-Schwerin hat in ihrem verkrampften Plädoyer für die Zweistaatlichkeit erst recht die Staatsfrage über die Idee der historischen Möglichkeiten gelegt. Ihr sektierisches Schimpfen auf die großdeutsche Gefahr mag die Hintergedanken in deutschen Hinterzimmern treffen, an der Erfahrung deutsch-deutscher Zusammengehörigkeit geht es vorbei. Sie hat sich nicht eingemischt, sondern als gesamtdeutsche Linkshaberin ausgegrenzt.

Die gestrige Debatte hat jedenfalls gezeigt, daß die Wiedervereinigung auf der konzeptionellen Ebene auch bei der CDU nicht ohne weiteres programmierbar ist. Symptomatisch war es, daß auch Kohl in seinem Programm Modrows Begriff von der deutsch-deutschen „Vertragsgemeinschaft“ aufgenommen hat. Was der Kanzler an konkreten Vorstellungen vorgetragen hat, ist - formell - durchaus Konsens: Achtung des Willens des DDR -Volkes, Sofortprogramme, gemeinsame Ausschüsse, freie Wahlen, „Vertragsgemeinschaft“, Konföderation. Selbst die SED diskutiert in diese Richtung. Mehr an politischer Phantasie ist im Augenblick nicht vorhanden. Ein solches Programm als Wiedervereinigungsprogramm auszugeben ist genaugenommen widersprüchlich. Denn der beschriebene Weg zur Konföderation setzt ja die gesicherte politische Autonomie des Partners voraus. Eine durch freie Wahlen legitimierte DDR-Regierung könnte ja geradezu zum größten Hindernis der Wiedervereinigung unter Kanzler Kohl werden.

Nein, die politischen Unterschiede liegen nicht in den Konzepten, sondern in den realen Schritten. Der Kanzler will nach wie vor wirtschaftliche Hilfe als politisches Instrument einsetzen. Vor allem aber will er Parteipolitik betreiben. In dieser Bundestagsdebatte wurde kein Programm zur Wiedervereinigung vorgelegt, sondern die Wiedervereinigung wurde zum Wahlkampfthema erhoben. Und das wird, der Debatte zufolge, ein schmutziger Wahlkampf werden. Die CDU hat überdeutlich gemacht: Die Bundestagswahlen müssen über die Wahlen in der DDR gewonnen werden. Jetzt schon zeichnet sich ab, wie die höfliche DDR-Opposition für die Bundespolitik funktionalisiert wird. Natürlich wird und muß das DDR-Volk, das seine Sprache findet, alle Möglichkeiten diskutieren, auch die der Wiedervereinigung. Daß es darunter womöglich etwas anderes versteht, droht in dem sich anbahnenden gesamtdeutschen Wahlkampf unterzugehen. Schon ist die SPD in der Defensive und sucht ihrerseits das „nationale Thema“ zu besetzen. Insofern hat die Bundestagsdebatte schlimme Vorahnungen erweckt: daß die CDU im Kampf um den Machterhalt durchaus bereit ist, den Demokratisierungsprozeß in der DDR zu opfern.

Klaus Hartung