Das Bürgerforum erlebt triumphale Erfolge

Innerhalb weniger Tage gelang es dem oppositionellen Bündnis, zur ausschlaggebenden politischen Kraft der CSSR zu avancieren / Dem Verhandlungsweg wird Vorrang vor Massendemonstrationen eingeräumt / Neue Regierungsbildung zentrale Forderung  ■  Aus Prag Klaus-Helge Donath

Am zweiten Verhandlungstag zwischen Ministerpräsident Adamec, Vertretern der nationalen Front und der neunköpfigen Delegation des oppositionellen Bürgerforums will die erstarkte Bürgerbewegung über ein neues Regierungsprogramm und eine Umbildung der Regierung verhandeln. Sollten diese Forderungen nicht akzeptiert werden, so ein Sprecher des Forums auf einer Pressekonferenz im Prager Theater „Laterna Magica“, dessen erfolgreiches Repertoire aus der Verknüpfung von Illusion und Wirklichkeit lebt, werde das Bürgerforum bei Staatspräsident Gustav Husak die Entlassung der derzeitigen Regierung einklagen. Das Parteiblatt der KPTsch, 'Rude Pravo‘, eilte den Anliegen der Opposition am Dienstag sogar schon voraus und zitierte in diesem Zusammenhang die Forderung nach Neuwahlen. Davon war an diesem Abend gar nicht die Rede gewesen.

Illusionär ist die Forderung der Opposition keineswegs. Das machte Jerzy Dingsbier nach dem erfolgreichen Generalstreik deutlich: Sollte die Regierung sich nicht auf das Verlangen der Opposition einlassen, werde man die Bevölkerung weiter in Streikbereitschaft halten. Um den Druck zu halten, werden daher alle Streikkomitees weiterbestehen. Gleichzeitig wurde ihnen nahegelegt, sich landesweit in Organisationen des Bürgerforums umzuwandeln und ihre institutionelle Gegenmacht dadurch weiter auszubauen. Große Bedeutung legt das Forum auf eine schnelle Verankerung der einzelnen Gruppen im Land. Noch vor dem für den 26. Januar geplanten Parteitag der KPTsch sollen Vertreter der gesamten Opposition in Prag zusammentreffen, um eine klare Verhandlungslinie zu entwickeln. Wie der Generalstreik gezeigt hat, sind in den größten Industriestädten des Landes, Bratislava, Pilsen, Ostrava, Brno und Olmütz, bereits schlagkräftige Organisationen entstanden.

Die Vernetzung der regionalen Gruppen und die Schaffung einer funktionsfähigen Infrastruktur stehen ganz oben auf der Tagesordnung des Forums. Dahinter verbirgt sich die Befürchtung, die emotionale Politisierung des momentanen Aufbruchs könnte ohne feste Strukturen abbröckeln und das Bürgerforum seine Rolle als ernst zu nehmende Gegenmacht einbüßen. Wenige Tage nach seiner Gründung wurde das Forum bereits als Ansprechpartner der Regierung akzeptiert. Dies läßt sich nicht allein auf den spontanen Rückhalt in der Bevölkerung zurückführen. Es dokumentiert gleichzeitig das taktische Geschick und die Politikfähigkeit dieser Organisation, in der sich die heterogensten Kräfte der zuvor atomisierten Gesellschaft zusammengefunden haben.

Glaubwürdigkeit und Sachkompetenz signalisieren neben Vaclav Havel so bekannte Wissenschaftler wie Prof. Valter Komarek, Direktor des Prognoseinstituts der tschechischen Akademie der Wissenschaften, und sein Kollege Dr. Vaclav Klaus. Zur Verhandlungsdelegation gehört neben dem Verfassungsrechtler Zdenek Jicinsky auch der Priester Vaclav Maly. Als Aktivist der „Vereinigung zu Unrecht Verfolgter“ und Chartamitglied ist er landesweit bekannt. Noch zu nennen wären der Vorsitzende des Streikrates der traditionsreichen Maschinenfabrik CKD Peter Müller und der gerade aus der Haft entlassene Rechtsanwalt Jan Canogursky. Auch er hat einen Namen. Als streitbarer Katholik hatte er schon vor längerer Zeit den Kontakt mit den Exreformern der KPTsch des Jahres 68 aufgenommen.

Damit sich die unkalkulierbare Dynamik, die in den spontanen Massenprotesten der vergangenen Tage lag, nicht in ein Hemmnis auf der Verhandlungsebene wendet, appellierte das Forum an die Bevölkerung, die Demonstrationen in den nächsten Tagen auszusetzen. Der KPTsch sei sowieso in aller Deutlichkeit gezeigt worden, daß sie ihre Führungsrolle nicht mehr aufrechterhalten könne. Jetzt käme es darauf an, ihr schrittweise Forderungen in Verhandlungen abzutrotzen. Als Verhandlungsgrundlage dient dabei ein Siebenpunkteprogramm, das Umrisse eines zukünftigen politischen Systems des Landes entwirft. Entscheidend bleibt hierbei das Selbstverständnis der Organisation als einer Plattform unterschiedlichster Orientierung. Mitarbeiten kann jede/r, die/der den Führungsanspruch der Partei ablehnt und für ein pluralistisches System votiert. Sobald dessen Fundamente geschaffen sind, und Neuwahlen anstehen, wird das Forum der Bildung von Parteien Platz machen.

Als Essential formuliert das Grundsatzpapier die Bildung eines demokratischen Rechtsstaates. Im Wirtschaftsbereich beabsichtigt es die Schaffung einer entwickelten Martkwirtschaft. Als Regulativ soll der Staat die makro -ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmen und soziale Sicherheiten garantieren. Ausdrücklich erwähnt werden die notwendige Verhinderung inflationärer Tendenzen, das Anwachsen der Auslandsverschuldung sowie die Eindämmung drohender Arbeitslosigkeit. Aufgaben des Umweltschutzes sollen ebenfalls in die Kompetenz des Staates fallen. Mit der Veränderung der Volkswirtschaft, die sich bisher durch enorme Verschwendung von Energie und Rohstoffen auszeichnete, müsse auch ein Wandel im Wertesystem einhergehen. Dies sei mit Opfern verbunden, die jeden treffen werden. Nachdrücklich betonen die Verfasser dieses Papiers, daß es noch an Präzision mangele, detaillierte Entwürfe seien jedoch schon in Arbeit.

Noch präsentiert sich das Bürgerforum erstaunlich homogen. Weder die Interessen der einzelnen oppositionellen Gruppen noch personelle Rivalitäten treten hervor. Das ist mit Sicherheit ein Moment ihres Erfolges. Und gegenüber der KPTsch verfehlt selbstverständlich die Massenunterstützung ihre Wirkung nicht. Auch die vormals gleichgeschalteten Blockparteien, die Sozialistische Partei und die Volkspartei, ziehen am gleichen Strang. Und selbst der kommunistische Jugendverband SSM macht kein Hehl aus seiner Befürwortung der studentischen Politik innerhalb des Forums. Schwierigkeiten dagegen bereitet Teilen des Verbandes noch die Kooperation mit Unterzeichnern der Charta 77.

Die Protagonisten des Forums geben sich optimistisch. In Kürze rechnet man mit der Einrichtung eines runden Tisches, längerfristig mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Von ungeheurem Selbstvertrauen zeugt die Aufforderung an die KP, sie solle nun endlich mit neuen programmatischen Vorstellungen aufwarten. Dingsbier rief die KP zum „Wettstreit politischer Ideen“ auf. Außer personellen Konsequenzen hatte sie bisher nicht viel zu bieten. Als Triumph innerhalb einer Woche konnte die Opposition die Erfüllung fast aller Bedingungen, die sie an die Aufnahme eines Dialogs mit der Partei geknüpft hatte, verbuchen: Freilassung der politischen Gefangenen, Einrichtung einer Untersuchungskommission zu den Übergriffen der Sicherheitskräfte am 17. November. Ihr größter Erfolg - und eine Demütigung der Partei - war der in zwei Stufen vollzogene Rücktritt der alten Garde der „Normalisierer“.