„Deutschland, einig Vaterland“ - Die Stimmung in Leipzig kippt

Leipzig (taz) - Leipzig am Montag abend. Der Karl-Marx-Platz ist voller Deutschlandfahnen. Schilder mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“ sind kaum noch zu sehen - „Wir sind ein Volk“ heißt jetzt die Parole. „Wiedervereinigung heute“ ist zu lesen, oder, raffinierter formuliert: „40 Jahre Arbeit für 100 DM Begrüßungsgeld?“. Nur ein paar Jugendliche irritieren mit der Aufschrift: „Gegen eine Annexion der DDR durch die BRD“.

Es ist kalt, es regnet und stürmt, die Demonstranten schneiden Windlöcher in ihre Pappschilder. Hannovers Oberbürgermeister Schmalstieg spricht bei der Kundgebung: Applaus. Jedesmal, wenn das Wort BRD fällt: Applaus. Und immer wieder und lauter: „Deutschland, einig Vaterland“. Die Szene ist gespenstisch. Michael Arnold vom Neuen Forum wird ausgepfiffen, als er von seiner Sorge in Sachen Wiedervereinigung spricht. Und der andere bundesdeutsche Gast neben Schmalstieg, ein Student aus Heidelberg, der die Leipziger vor den christdemokratischen Geschäftemachern aus dem Westen warnt, muß mitten im Satz abbrechen: Er wird niedergebrüllt.

Was die Oppositionsgruppen durch den Lautsprecher fordern freie Wahlen und Freilassung der Inhaftierten -, auf dem Platz interessiert es nur die, die erschrocken am Rand stehen. Von einer Grußadresse an Dubcek und Havel will die Menge nichts wissen: Die Gruppe neben mir macht lieber für den „Freistaat Sachsen“ Reklame. Das Volk und die Opposition - in Leipzig sprechen sie längst zwei verschiedene Sprachen. Einig ist man sich bloß noch in der Forderung nach Bestrafung der schuldigen Politiker. Und als verkündet wird, daß die ersten Stasi-Beamten jetzt im Braunkohlekombinat Cottbus arbeiten, aber nach wie vor ihr volles Stasi-Gehalt beziehen, pfeifen ausnahmsweise alle zusammen.

Barbara aus Schwerin, zur Zeit Journalistikstudentin in Leipzig, ist entsetzt. Vor zwei Wochen noch hatten die Deutschland-Rufe keine Chance, seit letzter Woche, meint ein Freund von ihr, „findet der Selbstreinigungsprozeß auf dem Platz nicht mehr statt“. Die Leute wollen, erklären sie mir, von jedem System das Gute: aus dem Osten die soziale Sicherheit und vom Westen den Wohlstand.

Barbara ist skeptisch, wie es weitergehen soll. Im Backwarenkombinat Leipzig fehlen 350 Leute, auch bei der Post sind die meisten weg. Sechs Leute machen die Arbeit von 24. Deshalb hilft sie jetzt bei den Dokumentarfilmtagen am Telex aus: Die Post konnte keinen Mitarbeiter stellen.

Ein jugoslawischer Trickfilm erntete auf der Filmwoche bisher den meisten Applaus. Zwei Männer im Boot, einer rudert, einer kommandiert durchs Megaphon. Bis der Rudernde den Kommandeur ins Wasser wirft und selber befiehlt. Bloß, daß jetzt keiner mehr rudert. „Der Tag, an dem der Sozialismus begann“ dauert zwei Minuten. 40 Jahre Sozialismus - das war der Mehrheit der Leipziger am Montag abend genug.

Christiane Peitz