Baltische Selbständigkeit

■ Stehende Ovationen im Obersten Sowjet der UdSSR / Noch kein Gesetz über das sozialistische Unternehmen und das Eigentum verabschiedet

Moskau (taz/afp) - „Ich höre gerade, daß hier jemand vorhat, nach vier Uhr wegzufahren. Das ist ganz ausgeschlossen, Genossen“, mahnte vor der Mittagspause am Dienstag, dem letzten Tag der Herbstsitzungsperiode des obersten Sowjets, dessen stellvertretender Vorsitzender Lukjanov. Der unglaubliche Zeitdruck, unter dem dieses erste halbdemokratisch gewählte Parlament der UdSSR zweieinhalb Monate lang arbeitete, verdichtete sich zum Alptraum.

Damit im neuen Jahr in der Sowjetunion auf neuer Grundlage gearbeitet und produziert werden kann, mußten die anstehenden Gesetzentwürfe wenigstens in erster Lesung verabschiedet werden. Dementsprechend gab es für fast alle Beschlüsse am Montag und Dienstag Zweidrittelmehrheiten. Allerdings wurden nur zwei Gesetzesprojekte auch in zweiter Lesung - also endgültig - beschlossen: „Über die Amnestie für Teilnehmer des Afghanistankrieges und „über die wirtschaftliche Selbständigkeit Estlands, Lettlands und Litauens“. Geregelt ist damit die Frage der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Bis zuletzt hatten einige Hardliner argumentiert, daß dieses Gesetz Tür und Tor für die Unterdrückung der nationalen Minderheiten, vor allem der Russen, im Baltikum öffne.

Die Minuten nach der Verabschiedung des Gesetzes gehörten zu den emotionalen Höhepunkten in der kurzen Geschichte des neuen Obersten Sowjets. Stehend applaudierten die baltischen Deputierten, und die Vertreter der überregionalen Deputiertengruppe winkten ihnen gratulierend zu.

Fünf Programmpunkte im Plan dieser Sitzungsperiode wurden nicht einmal in erster Lesung erfüllt. Daß dazu gerade die für die industrielle Produktion lebenswichtigen Gesetze „Über das sozialistische Unternehmen“ und „Über das Eigentum“ gehören, erweckt bei vielen Sowjetbürgern Zweifel an der Effektivität ihres Parlamentes. Der Marathonlauf, mit dem der Oberste Sowjet in wenigen Wochen die Grundlage eines modernen, wirtschaftlich effektiven Rechtsstaates schaffen soll, ist bis zum neuen Jahr unterbrochen. Die Abgeordneten arbeiten weiter. Sie sind alle Mitglieder des „Kongresses der Volksdeputierten“ - diese verfassunggebende Versammlung tagt ab 11.Dezember.

In Armenien und Aserbaidschan hat gestern die Mobilisierung der Bevölkerungen gegen die Beschlüsse des Obersten Sowjets über die Zukunft des autonomen Gebiets Nagorny-Karabach begonnen. Sowohl die aserbaidschanische Volksfront als auch die armenische Nationalbewegung kündigten für Mittwoch abend Demonstrationen an; der Oberste Sowjet Armeniens will am Donnerstag über die neue Lage beraten.

Barbara Kerneck