Angst vor der Wende der Wende

■ Leipziger Reaktionen auf die Wiedervereinigungsdebatte: Verdrängung und Protest

„Das Land bricht auseinander, und die da vorne unterhalten sich über die Geschäftsordnung“, meint der Journalist neben mir. Es ist Dienstag abend, Karl-Marx-Universität, Hörsaal 19. Die Leipziger Oppositionsgruppen hatten zur Diskussion geladen. Aber statt über die Demonstration vom Montag zu reden, statt sich Gedanken zu machen über die Pfiffe für Michael Arnold vom Forum, der sich auf dem Platz gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen hatte, geht's nur um Bürokratie. Wer gründet eine Partei, wer will nur Initiativgruppe sein, Neuwahlen im Herbst 1990 oder besser später, das sind die Themen. Und die Abgrenzung der Gruppen voneinander beschäftigt die Gemüter: Darf einer vom Neuen Forum auch im Demokratischen Aufbruch mitmachen? Nimmt die SDP auch Kommunisten auf? Die Studenten und Bürger, die gekommen sind, intervenieren nicht und schicken brav ihre Fragezettelchen vorne aufs Podium. Mag sein, daß Stunden später auch über den neuen Nationalismus und über die Angst vor dem Ausverkauf der DDR diskutiert wurde - nach eineinhalb Stunden verlasse ich den Saal. Ich denke, ich bin im falschen Film.

Die Teilnehmer und Veranstalter der Leipziger Dokumentarfilmwoche haben schneller reagiert. Schon am Montag abend hatten einige bei einer Diskussion zum eben gelaufenen Wettbewerbsfilm spontan eine Erklärung verfaßt. Dort heißt es: „Mit Sorge verfolgen wir, daß in der Montagsdemonstration in Leipzig nationalistische Tendenzen hörbar wurden. Der Fortschritt in der DDR darf kein Zurück in ein Deutschland von einst sein. Parolen, die die Wiedervereinigung fordern, weisen ins Gestern. Die Revolution in der DDR, die auch außerhalb der DDR-Grenzen Hoffnungen auf einen reformierten, demokratischen Sozialismus ausgelöst hat, darf nicht in nationalistischem Taumel ertränkt werden.“ Inzwischen hat sich auch das Festivalkomitee der Erklärung angeschlossen.

Roland Steiner, dem Regisseur des Skinhead-Films Unsere Kinder ist die Erklärung allerdings nicht scharf genug. In einer Zusatzerklärung im Festivalbulletin vom Mittwoch kritisiert er die ungenaue Formulierung: „Diese Parolen weisen nicht nur ins Gestern, sondern sind zugleich auch ein Hinweis auf eine mindestens unzulängliche Politik der immer noch führenden gesellschaftlichen Kräfte.“ Er fordert eine offensive Auseinandersetzung mit dem neuen Nationalismus. Deshalb sind er und die Regisseurin Helke Misselwitz (Winter ade) am Dienstag abend nach der 20-Uhr -Vorstellung aufs Podium gegangen - ein Novum auf dem Filmfestival - und haben in Anwesenheit des Festivaldirektors Trisch den Aufruf Christa Wolfs verlesen und zur Unterschrift aufgefordert. Seitdem geht hier kaum noch einer ins Kino. Man diskutiert nicht mehr über Filmästhetisches, sondern nur noch über die Angst vor der Wende der Wende.

Christiane Peitz, Leipzig