Flitzende Chips, schmerzende Finger

Das indische Lochbillard Carrom immer beliebter / Erste Weltmeisterschaften fanden in Heidelberg statt  ■  Von Eberhard Häberle-Krauch

Heidelberg (taz) - Zack! Klack, klickklick, klack! Die Queen ist eingelocht, doch noch fehlt die offizielle Bestätigung! Die nächste Klick-Klack-Serie - Pech gehabt, mein Striker fliegt in hohem Bogen von der Platte: Strafpunkt, und Susanne, meine Spielgegnerin, grinst hämisch... Nein, das ist nicht die spielerische Vorwegnahme einer antimonarchistischen Revolution, sondern das indische Nationalspiel Carrom.

Carrom? Im Zeichen des PCs, der Mattscheibe und des Joy -sticks für die meisten wohl ein inhaltsleeres Wort. Dabei ist Carrom ein Spiel oder eher ein Sport, der süchtig macht. Halb Asien, vom Jemen bis Sri Lanka, ist ihm verfallen, während in unseren Landen erst schätzungsweise 100.000 Menschen vom Virus betroffen sind, obwohl die ersten Spielbretter (74*74 Zentimeter) schon vor rund zwanzig Jahren im Reisegepäck der Hippiegeneration auftauchten. Doch spielen wollte damals noch niemand. Exotik war eher in Form von Hasch, Zen und Räucherstäbchen gefragt.

Die Entstehungsgeschichte des traditionellen Spiels kennt niemand genau. Am ehesten stimmt wohl die Version, daß arme Inder und Inderinnen vom Lochbillard der englischen Kolonialherren so fasziniert waren, daß sie sich ein billigeres und einfacheres Spiel bastelten. Doch könnte es auch umgekehrt gewesen sein, denn es gibt eine Theorie, daß Carrom seinen Ursprung in Ägypten hatte und von dort nach Indien kam. Die Ähnlichkeit zum Lochbillard ist jedoch unverkennbar, wenn auch das Spielfeld mit einer Fläche von über einem halben Quadratmeter weitaus handlicher als das „Vorbild“ ist. In den Ecken des blankpolierten Bretts sind Löcher von etwa 4,5 Zentimetern Durchmesser, und hier hinein sollen die Spieler ihre neun weißen beziehungsweise schwarzen Holzscheiben plazieren.

Der Striker, die etwas größere Scheibe, wird auf die Grundlinie gelegt und dann so auf die zunächst im Zentrum des Brettes aufgebauten Chips geschossen, daß er diese möglichst ins Ziel, die Ecklöcher, befördert. Statt des Queues wie beim Billard wird der Finger benutzt. Wer zuerst alle eigenen Steine versenkt hat, bekommt die auf dem Spielfeld verbliebenen gegnerischen als Pluspunkte gutgeschrieben. Die rote Queen zählt für den Gewinner der Partie weitere fünf Punkte, wenn er sie selbst eingelocht und sofort anschließend einen weiteren Stein plaziert hat. Gespielt wird in mehreren Durchgängen: Wer zuerst 29 Punkte erreicht hat, ist Sieger.

Das alles wäre ja ganz einfach, wenn unser Finger nicht ein so empfindliches Körperteil wäre. Anfänger machen fast immer den Fehler, ihn zu weit vom Striker entfernt zu halten. Beim Schuß prallt der Fingernagel mit großer Kraft auf den harten Striker: „Die Schönheit dieser Welt verschwindet / und nur der Schmerz zieht, bohrt und mündet / in diesen einen Knotenpunkt / den man dann gern ins Wasser tunkt.“ (Wilhelm Busch: Fips, der Affe). Klar, daß einem, solchermaßen malträtiert, der Spielspaß schnell vergeht.

So stand auch unser Carrombrett jahrelang hinterm Schrank, bis ich vor wenigen Monaten zufällig ein Buch in die Hände bekam, in dem die verschiedenen Spielweisen vorgestellt werden: Die „indische Fingerstellung“ - mit Zeige- oder Mittelfinger, unter Zuhilfenahme des Daumens - und der „Srilankische Griff“, bei dem auf ganz eigentümliche Weise der gestreckte Mittelfinger mit Hilfe des Zeigefingers geschnippst wird. Mit dem „Daumenschuß“ kann der Striker auch rückwärts geschnellt werden. Jetzt klappte es endlich!

Inzwischen boomt es beim Carrom, das hoffen zumindest die etwa zehn Hersteller und Vertreiber der Bretter. Exotik ist offensichtlich gefragt, und so flutschen nun die Chips und Striker mit affenartiger Geschwindigkeit über kunststoffbeschichtete Bretter oder sogar solche aus Metall. Doch zu diesen postmodernen europäisch-perfektionistischen Brettern meint Harry Darnhofer, Vizepräsident der „International Carrom Federation“ und Präsident des „Deutschen Carrom-Verbandes“: „Die Metallbretter sind viel zu schnell, um noch ein gezieltes und taktisches Spielen zu ermöglichen.“ Insider schwören (noch) auf die echten indischen Bretter mit der etwas seltsamen Bemalung und einem kräftigen Rahmen aus Hartholz. Kosten: zwischen 100 und für exklusive Turnierbretter 500 Mark.

26 Carromvereine mit durchschnittlich 30 bis 40 Mitgliedern gibt es in der Bundesrepublik. Dieses Jahr war es nun soweit: Ende November fand das erste internationale Carromturnier in Heidelberg statt. Zehn Nationen waren angetreten, die weltbesten Spieler und Spielerinnen zu küren. Neben der absoluten Spitzenklasse aus Indien und Sri Lanka, Pakistan und von den Malediven waren Vertreter aus der BRD, der DDR, der Schweiz, den Niederlanden, Spanien und den USA angetreten.

Mit dieser Veranstaltung sollte das Carromspiel als Sport bekannter gemacht werden. Problematisch dürfte da nur sein, daß wegen der geringen Größe des Spielfeldes immer nur wenige Zuschauer ein Match verfolgen können und daß entscheidende Spielsituationen nicht wie beim Schach oder Go nachgespielt werden können.

Aber wer einmal gesehen hat, wie srilankische oder indische Spieler und Spielerinnen aus den unmöglichsten Positionen heraus ihre Steine einlochen und die gegnerischen blockieren, der ist über kurz oder lang der Droge Carrom verfallen. Das läßt sogar den anfänglichen Schmerz in den Fingern vergessen. Klack, klickklick, klack - schon allein der Ton macht süchtig.