Die IG Metall schnürte ein deftiges Tarifpaket

■ Die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche hat Priorität / 8,5 Prozent mehr Lohn verlangt / Nach heftiger Debatte beschloß eine knappe Mehrheit in der Tarifkomission auch, daß die unteren Lohngruppen 200 Mark mehr bekommen soellen

Leinfelden-Echterdingen (taz) - Die ersten Forderungen für die Tarifrunde 1990 in der Metallindustrie sind beschlossen: die Große Tarifkommission des IG Metall-Bezirks Stuttgart schnürte gestern gleich ein ganzes Paket angestrebter Verbesserungen.

Die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, das arbeitsfreie Wochenende, mehr individuelle „Zeitsouveränität, humanere Arbeitsbedingungen und eine weitreichende Absicherung ungeschützter Arbeitsverhältnisse“ sollen für die 3,5 Millionen Beschäftigten in der baden -württembergischen Metallindustrie tarifvertraglich verankert werden.

Darüber hinaus soll es 8,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt geben, mindestens aber 200 Mark für die ArbeitnehmerInnen in den unteren Lohngruppen.

Waren die Forderungen zum Manteltarif unter den rund 150 FunktionärInnen noch unumstritten, entfachte eine Strukturforderung für die einkommenschwachen Lohngruppen eine zum Teil hitzige Diskussion.

Bezirksleiter Walter Riester hatte einen neunprozentigen Lohnzuschlag ohne Sockelbetrag zur Abstimmung empfohlen. Eine Strukturforderung sei seiner Auffassung nach nicht durchsetzbar, befürchtete Riester. Zudem haben die Manteltarifforderungen für ihn einen „qualitativ ganz anderen Stellenwert“: sie und nicht eine Strukturverbesserung würden „politisch den richtigen Weg aufzeigen“.

Doch die VertreterInnen der Basis machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Die knappe Mehrheit der Kommission verlangte nach der Debatte beides: Künftig sollen die unteren Lohn- und Gehaltsgruppen ummindestens 200 Mark angehoben werden.

Die BefürworterInnen einer Strukturreform hatten vehement die ständig steigenden finanziellen Belastungen gerade einkommensschwacher Familien etwa durch hohe Mieten als Argument angeführt.

Auch würden nicht alle Beschäftigten in Stuttgarter „Nobelschuppen“ bei hohen Löhnen arbeiten, in der Elektroindustrie etwa hätten besonders die Frauen recht wenig in der Lohntüte, erklärte eine Betriebsrätin.

Die Manteltarifforderungen begründete Walter Riester mit der Notwenigkeit, jetzt verstärkt auch strukturelle Veränderungen anzugehen, die eine „gesellschaftspolitische Dimension“ beinhalten. Nach wie vor hat die Durchsetzung der Arbeitzeitverkürzung für die IG Metall erste Priorität.

Aber eine Diskussion über die zukünftige Arbeitszeitpolitik auch unter den Metallern ist mit den Tarifforderungen bereits eingeleitet.

Im Bezirk Stuttgart wollen sie erstmals den Beschäftigten mehr Freiheiten bei der individuellen Festlegung der Arbeitszeiten einräumen. Auch für Kinder muß es mehr Zeit geben: der Tarifvertragsentwurf sieht einen siebenjährigen Erziehungsurlaub vor.

Und ein weiteres Novum: gegen die wachsenden Leistungsverdichtung in den Betrieben sollen die Betriebsräte künftig bei der personellen Besetzung einzelner Abteilungen mitbestimmen und „Sollkapazitäten“ festlegen können.

Erwin Single